Handlungseinheit und Handlungsmehrheit

Handlungseinheit und Handlungsmehrheit

Im Rahmen der Konkurrenzen ist zunächst zu klären, ob der Täter eine oder mehrere Handlungen begangen hat.

Handlungseinheit

Eine Handlungseinheit im natürlichen Sinne ist gegeben, wenn der Täter eine Körperbewegung aufgrund eines Willensentschlusses vorgenommen hat.1 Wie viele Erfolge dadurch verursacht werden und wie viele Gesetze der Täter dadurch verletzt, ist gleichgültig.2

Beispiel:3 T wirft in Kenntnis aller Gefahren eine Handgranate auf einen belebten Platz. A und B werden getötet, C und D verletzt. – Es liegt nur eine Willensbetätigung des T vor. Durch diese sind aber mehrere Gesetze verletzt worden. Zu Lasten von A und B ist jeweils ein (vollendeter) Mord (§ 211 StGB) verübt – die gleichsam verwirklichten §§ 212, 223 StGB treten insoweit im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück –, zu Lasten von C und D jeweils ein Mordversuch (§§ 211, 22, 23 I StGB) und eine (vollendete) gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 I Nr. 2, 5 StGB – der insoweit mitverwirklichte Grundtatbestand der einfachen Körperverletzung (§ 223 I StGB) tritt wiederum im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück –. Die gegenüber A und B sowie C und D begangenen Taten stehen gemäß § 52 I Alt. 2 StGB in gleichartiger Tateinheit, die übrigen Taten gemäß § 52 I Alt. 1 StGB in ungleichartiger Tateinheit.

Die Rechtsprechung kennt daneben die natürliche Handlungseinheit.4 Eine solche liegt vor, wenn der Täter zwar mehrere Körperbewegungen vornimmt, diese jedoch „bei natürlicher Betrachtungswiese“ als eine Einheit angesehen werden müssen. Eine natürliche Handlungseinheit sei anzunehmen, wenn eine Aufspaltung in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs willkürlich und gekünstelt erschiene.5

Beispiele: (1) T sticht innerhalb weniger Sekunden mehrmals auf O ein (iterative [= wiederholte] Tatbestandsverwirklichung).6 (2) T will O erschießen. Der erste Schuss geht daneben, der zweite trifft das Bein, der dritte den Oberkörper und erst der vierte tödlich den Kopf (sukzessive [= schrittweise] Tatbestandsverwirklichung). Es liegt nur ein Fall des § 212 StGB bzw. § 211 StGB vor, und zwar „durch Erschießen“.7

Allerdings kann selbst bei einem einheitlichen Tatentschluss und einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang eine natürliche Handlungseinheit zu verneinen sein, wenn ein zweiaktiges Tatgeschehen eine Zäsur aufweist8 oder sich die Angriffshandlungen auf höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen beziehen.9

Mehrere Willensbetätigungen des Täters können auch zu einer rechtlichen Handlungseinheit verbunden sein.10 Anwendungsfälle der rechtlichen Handlungseinheit sind (i) die tatbestandliche Handlungseinheit und (ii) Fälle der Klammerwirkung.

Eine tatbestandliche Handlungseinheit liegt vor, wenn ein Straftatbestand die Vornahme mehrerer Handlungen voraussetzt. Beispiel: Der Raub (§ 249 StGB) erfordert neben einer Gewaltanwendung eine Wegnahme. Auch Dauerdelikte gehören in diese Kategorie. Beispiele: Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), Fahren im untüchtigen Zustand (§ 316 StGB).

Eine rechtliche Handlungseinheit durch Klammerwirkung liegt vor, wenn zwei voneinander unabhängige Delikte jeweils mit einer dritten Handlung in Handlungseinheit stehen und so miteinander zu einer rechtlichen Handlungseinheit verbunden werden. Die Klammerwirkung darf aber nur dann angenommen werden, wenn die verklammerte Handlungseinheit im konkreten Fall einen größeren Unwert verkörpert als zumindest eine der zu verklammernden Handlungen.11 Beispiel:12 T stiehlt Kfz-Kennzeichen und bringt sie mit dem Vorsatz, das Fahrzeug im öffentlichen Verkehr zu bewegen, zeitnah an sein eigenes Auto an. Das Herstellen und der (ggf. mehrfache) Gebrauch der unechten zusammengesetzten Urkunde stellt eine tatbestandliche Handlungseinheit und damit nur eine Urkundenfälschung (§ 267 I StGB) dar. Treffen weitere, auf der Fahrt begangene Delikte mit der einheitlichen Urkundenfälschung zusammen, werden sämtliche Gesetzesverstöße zu einer Tat im materiell-rechtlichen Sinne verklammert.

Handlungsmehrheit

Können bei Vorliegen mehrere Handlungen weder eine Handlung im natürlichen Sinn noch eine natürliche Handlungseinheit noch eine rechtliche Handlungseinheit festgestellt werden, liegt eine Handlungsmehrheit vor. Letztere wird mithin im Wege des Ausschlussprinzips ermittelt.13


  1. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, Vor § 52 Rn. 6; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 56 Rn. 15.
  2. BGH, Urt. v. 03.08.1962 – 4 StR 155/62, BGHSt 18, 26, 26 f.
  3. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 56 Rn. 15, 47.
  4. Zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 1162. Die natürliche Handlungseinheit lässt sich auch als Unterfall der rechtlichen Handlungseinheit begreifen (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 56 Rn. 25). Im Schrifttum wird der Begriff der natürlichen Handlungseinheit teilweise abgelehnt (Roxin, Strafrecht AT II, 1. Aufl. 2003, § 33 Rn. 29 ff.).
  5. BGH, Beschl. v. 10.02.2016 – 2 StR 391/15, Rn. 7; BGH, Urt. v. 11.10.2005 – 1 StR 195/05, NStZ 2006, 284, 286.
  6. BGH, Beschl. v. 10.02.2016 – 2 StR 391/15, Rn. 7; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 56 Rn. 17.
  7. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 56 Rn. 21.
  8. BGH, Urt. v. 17.12.1998 – 4 StR 563/98, NStZ-RR 1999, 191: Übergang vom Körperverletzungs- zum Tötungsvorsatz mit gleichzeitigem Motivwechsel bei einem zweiaktigen Delikt.
  9. BGH, Beschl. v. 10.02.2016 – 2 StR 391/15, Rn. 7: Der Täter greift nacheinander unterschiedliche Opfer an, um jeden von ihnen in seiner Individualität zu beeinträchtigen.
  10. Zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, Vor § 52 Rn. 10 – 13; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 1166 – 1170.
  11. BGH, Urt. v. 28.10.2004 – 4 StR 268/04, NStZ 2005, 262, 262 f.; teilweise wird die Rechtsfigur der Klammerwirkung auch mit dieser Einschränkung und damit insgesamt abgelehnt (Kretschmer, JA 2019, 581, 584, 586).
  12. BGH, Beschl. v. 15.02.2017 – 4 StR 629/16.
  13. R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 1176.