Grundlagen der Irrtumsanfechtung

Grundlagen der Irrtumsanfechtung

Empfangsbedürftige Willenserklärungen sind anhand der §§ 133, 157 BGB normativ auszulegen. Es kommt darauf an, wie der Empfänger die Erklärung verstehen durfte (Lehre vom „objektiven Empfängerhorizont“). Die Auslegung geht der Anfechtung vor. Ergibt die Auslegung, dass das Gewollte gilt, scheidet eine Anfechtung wegen Irrtums aus.1 Die normative Auslegung kann aber auch dazu führen, dass der Erklärende eine Willenserklärung gegen sich gelten lassen muss, obwohl ein der objektiven Erklärung entsprechendes Erklärungsbewusstsein bzw. ein entsprechender Geschäftswille nicht bestand. Dann liegt ein Irrtum des Erklärenden, also ein unbewusstes Auseinanderfallen von Willen und Erklärung vor.2 In diesen Fällen kommt eine Anfechtung der Willenserklärung nach den §§ 119, 120 BGB in Betracht.

Fallen Wille und Erklärung bewusst auseinander, gelten die §§ 116 – 118 BGB.

Zur Anfechtung berechtigen allerdings nur beachtliche Irrtümer des Erklärenden. Beachtlich sind nach den §§ 119, 120 BGB folgende Irrtümer:

§ 119 I BGB behandelt den Fall, dass jemand „bei Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war“ (Inhaltsirrtum) und den Fall, dass der Erklärende „eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte“ (Erklärungsirrtum).

• Nach § 119 II BGB ist dem Inhaltsirrtum der Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften der Person oder der Sache gleichgestellt.

§ 120 BGB stellt die durch einen Dritten unrichtig übermittelte Willenserklärung einem Erklärungsirrtum gleich.

In allen Irrtumskonstellationen der §§ 119, 120 BGB3 ist die Anfechtung nur möglich, wenn der Erklärende die Erklärung bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde (§ 119 I BGB a. E.).4 Der Irrtum muss sowohl subjektiv („bei Kenntnis der Sachlage“) und als auch objektiv („bei verständiger Würdigung des Falles“) erheblich, d. h. kausal für die Abgabe der Erklärung gewesen sein.

Die Kausalität des Irrtums für die Willenserklärung ist zunächst subjektiv zu ermitteln. Die subjektive Erheblichkeit des Irrtums ist zu verneinen, wenn der Erklärende die Erklärung auch ohne den Irrtum abgegeben hätte. Auf ein Verschulden des Erklärenden kommt es nicht an, so dass auch ein grob fahrlässiger Irrtum eine Anfechtung nicht ausschließt. An der subjektiven Erheblichkeit mangelt es beispielsweise dann, wenn der Erklärende ein Risiko bewusst in Kauf genommen hat und sich dieses Risiko sodann verwirklicht. Ist die subjektive Erheblichkeit gegeben, ist das objektive Element der verständigen Würdigung zu prüfen. Eine (auch) objektive Kausalität liegt vor, wenn eine vernünftig handelnde Person in der Situation des Irrenden die Erklärung ebenfalls nicht abgegeben hätte.5 Hierfür kommt es darauf an, ob der Erklärende aus nachvollziehbaren Motiven, d. h. „frei von Eigensinn, subjektiven Launen und törichten Anschauungen“ gehandelt hat. Maßgeblich ist also eine Beurteilung der individuellen Umstände des Erklärenden aus der Sicht eines vernünftigen (objektiven) Dritten.6 An der objektiven Erheblichkeit fehlt es beispielsweise dann, wenn sich der Irrtum auf unwesentliche Vertragspunkte bezieht oder wenn der Anfechtende zur Abgabe der entsprechenden Willenserklärung verpflichtet gewesen ist.


  1. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 61.
  2. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 119 Rn. 4; Schack, BGB AT, 17. Aufl. 2023, Rn. 215.
  3. Für § 119 II BGB ergibt sich dies daraus, dass der Eigenschaftsirrtum als Erklärungsirrtum „gilt“ und damit an den Tatbestand des § 119 I BGB angeknüpft wird, für § 120 BGB daraus, dass in dessen Wortlaut explizit auf den Tatbestand des § 119 BGB („unter den gleichen Voraussetzungen … wie nach § 119“) verwiesen wird (Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 129).
  4. Zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 129.
  5. Hier und zum Folgenden: BGH, Urt. v. 08.06.1988 – VIII ZR 135/87, NJW 1988, 2597, 2599.
  6. Siehe hierzu den Fall: „Teure Tennisbälle“.