Gestörtes Gesamtschuldverhältnis
Gestörtes Gesamtschuldverhältnis
Eine Störung des Gesamtschuldverhältnisses tritt ein, wenn die Haftung eines Gesamtschuldners gegenüber dem Gläubiger ausgeschlossen oder beschränkt ist.1 Der Haftungsausschluss und die Haftungsbeschränkung können auf einer Vereinbarung oder auf Gesetz beruhen.
Generell sind in Fällen der gestörten Gesamtschuld drei Lösungswege denkbar:2
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Die Privilegierung des einen Gesamtschuldners kann sich zu Lasten des anderen Gesamtschuldners auswirken, d. h. der nicht privilegierte Schuldner muss im Außenverhältnis voll leisten und kann den privilegierten Schuldner im Innenverhältnis anschließend nicht (anteilig) in Regress nehmen.
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Die Privilegierung kann aber auch nur im Außenverhältnis zum Gläubiger wirken, nicht aber im Innenverhältnis zum weiteren Schuldner. Dem nicht privilegierten Schuldner steht dann aufgrund einer fingierten Gesamtschuld ein Ausgleichsanspruch nach § 426 I, II BGB gegen den privilegierten Schuldner zu.
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Schließlich kann sich die Störung auch zu Lasten des Geschädigten auswirken. Der Ersatzanspruch des Geschädigten wird dann von vornherein um den Teil gekürzt, der im Innenverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern auf den privilegierten Gesamtschuldner entfallen würde.
Vereinbarte Haftungsprivilegierung
Die Vereinbarung über einen Haftungsausschluss zwischen einem Gesamtschuldner und dem Gläubiger wirkt sich im Außenverhältnis gegenüber dem Gläubiger und im Innenverhältnis der Gesamtschuldner aus.3
Beispiel: S1 nimmt G in seinem Pkw mit. Beide vereinbaren für den Fall eines Unfallschadens einen vollständigen Ausschluss der Haftung des S1 (Halter und Fahrer des Pkw). Bei einem durch S1 („Erstschädiger“) und S2 („Zweitschädiger“) gleichermaßen fahrlässig verschuldeten Unfall entsteht dem G ein Schaden von 2.000 €.
Im Außenverhältnis hat G gegen S1 wegen des Haftungsverzichts keinen Anspruch. Im Übrigen lassen sich mehrere Lösungen vertreten:
- Erste Lösung: G kann den Schaden in voller Höhe von S2 ersetzt verlangen. S2 hat keinen Ausgleichsanspruch gegen S1, da dieser wegen des Haftungsverzichts nicht Schuldner geworden ist und deshalb kein Gesamtschuldverhältnis vorliegt.
Kritik: Diese Lösung ist abzulehnen, weil sich die Vereinbarung über den Haftungsausschluss zwischen G und S1 damit als unzulässiger Vertrag zu Lasten eines Dritten (des S2) darstellen würde.
- Zweite Lösung: S2 muss zwar dem G den ganzen Schaden ersetzen, kann aber von S1 in Höhe von 1.000 € Ausgleich verlangen, da der vertragliche Haftungsausschluss nur im Verhältnis der Vertragsparteien, also zwischen G und S1 wirkt.4
Kritik: Diese Auffassung wirkt sich zu Lasten des privilegierten Erstschädigers aus: Er verliert den durch den vertraglichen Haftungsausschluss erlangten Vorteil auf dem Wege des Rückgriffs des Zweitschädigers. Damit steht S1 schlechter, als er stünde, wenn er allein für den Schaden verantwortlich wäre. Dies ist von G und S1 nicht gewollt gewesen. S1 soll überhaupt nicht in Anspruch genommen werden können, weder durch G noch (im Regresswege) durch den S2.
- Dritte Lösung: G kann S2 nur insoweit in Anspruch nehmen, als S2 den Schaden im Innenverhältnis zu S1 zu tragen hätte, wenn ein Haftungsausschluss nicht vereinbart worden wäre. Im Beispielsfall kann G von S2 somit nur 1.000 € verlangen. Ein Ausgleichsanspruch des S2 gegen S1 besteht nicht.5
Kritik: Diese Lösung ist interessengerecht. Durch den Haftungsverzicht soll der Zweitschädiger weder besser noch schlechter gestellt werden. G muss aber den Nachteil, der durch den von ihm selbst vereinbarten Haftungsverzicht entsteht, auch tragen.
Für die Vereinbarung einer Haftungsbeschränkung gilt das zum vereinbarten Haftungsausschluss Gesagte entsprechend.6
Beispiel: S1 nimmt G in seinem Pkw mit. Beide vereinbaren, dass S1 im Falle eines Unfallschadens nur für diejenige Sorgfalt einzustehen hat, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt (diligentia quam in suis rebus adhiberi solet). Bei einem durch S1 und S2 gleichermaßen fahrlässig verschuldeten Unfall entsteht dem G ein Schaden von 2.000 €. Nach der hier vertretenen Auffassung kann G den S2 nur in Höhe von 1.000 € in Anspruch nehmen.
Gesetzliche Haftungsprivilegierung
Die Frage, zu wessen Lasten sich eine Haftungsfreistellung auswirken soll, stellt sich auch bei gesetzlichen Haftungsprivilegierungen. Im Gegensatz zu vertraglichen können gesetzliche Haftungsprivilegierungen auch zu Lasten Dritter wirken und so dem nicht privilegierten Zweitschädiger einen Ausgleichsanspruch gegen den Privilegierten verwehren.7
Beispiel: S1 verletzt den minderjährigen G, Sohn des S2, rechtswidrig und schuldhaft an dessen Gesundheit. Die Schädigung hat S2 durch eine Verletzung der Aufsichtspflicht mitverursacht. G musste ärztlich behandelt werden und verlangt von S1 Ersatz der Behandlungskosten. Dem Grunde nach besteht ein Schadensersatzanspruch des G gegen S1 aus § 823 I BGB und § 823 II BGB i.V.m. § 223 StGB. Fraglich ist jedoch, ob der Anspruch über die Grundsätze des gestörten Gesamtschuldverhältnisses zu kürzen ist. Auch S2 ist dem G gemäß § 823 I BGB, § 823 II BGB i.V.m. § 223 StGB und § 1664 I BGB (eigene Anspruchsgrundlage) grundsätzlich zum Ersatz des Schadens verpflichtet. Nach § 1664 I BGB ist S2 im Verhältnis zu G jedoch in der Weise haftungsprivilegiert, dass er nur für die Sorgfalt einzustehen hat, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt.
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Denkbar wäre es, dem G einen ungekürzten Anspruch gegen S1 und diesem wiederum einen anteiligen Regressanspruch gegen S2 zuzugestehen (fingierte Gesamtschuld).8 Dann würde sich die Privilegierung des S2 nur im Verhältnis zu G, nicht aber im Verhältnis zu S1 auswirken.9
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Die Störung des Gesamtschuldverhältnisses könnte sich aber auch zu Lasten des G auswirken. Dessen Anspruch gegen S1 wäre demnach um denjenigen Anteil zu kürzen, den S2 im Innenverhältnis ohne die Haftungsprivilegierung zu tragen hätte.10
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Der BGH bevorzugt mittlerweile eine Lösung, die zu Lasten des S1 wirkt. Soweit sich die Haftungsprivilegierung aufgrund einer engen persönlichen Beziehung ergebe, entstehe schon gar kein Gesamtschuldverhältnis. Die gesetzliche Anordnung bestimme, dass der persönlich mit dem Geschädigten verbundene Schädiger endgültig von einer Inanspruchnahme zu entbinden sei.11 Danach kann G den S1 in voller Höhe in Anspruch nehmen; ein Regress des S1 gegen S2 scheidet aus.
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Kritik: Für die letztgenannte Auffassung spricht, dass es aus Sicht des G unbillig erscheint, seinen Anspruch bei (nur) leichter Fahrlässigkeit seiner Eltern zu kürzen. Verhalten sich die Eltern grob fahrlässig, würde er gemäß § 1664 I i.V.m. § 277 BGB einen ungekürzten Anspruch haben. Gegen diese Auffassung spricht aber der Wortlaut des § 1664 I BGB, der lediglich das Innenverhältnis zwischen Eltern und Kindern („gegenüber dem Kind“), nicht aber das Außenverhältnis zu Dritten betrifft. Auch mit der Erhaltung des Familienfriedens lässt sich eine Benachteiligung des S1 nicht begründen. Im Ergebnis verdient die zweitgenannte Auffassung, die einen gekürzten Anspruch des G gegen S1 annimmt, den Vorzug.
Dieser Auffassung folgt der BGH bei sonstigen gesetzlichen Haftungsprivilegierungen, denen kein enges persönliches Verhältnis zugrunde liegt. In diesen Fällen ist der Anspruch des Geschädigten um den Teil zu kürzen, den der freigestellte Schädiger im Innenverhältnis zu tragen hätte.12 Bei der Teilnahme am Straßenverkehr wendet der BGH die Haftungsbeschränkungen nicht an,13 so dass das Problem einer gestörten Gesamtschuld hier nicht auftaucht.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 37 Rn. 20.
- Zum Folgenden: R. Schmidt, Schuldrecht AT, 13. Aufl. 2019, Rn. 1134.
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 37 Rn. 20 – 24.
- BGH, Urt. v. 11.06.1992 – IX ZR 161/91, NJW 1992, 2286, 2287; BGH Urt. v. 09.03.1972 – VII ZR 178/70, BGHZ 58, 216, 220 f.; BGH, Urt. v. 03.02.1954 – VI ZR 153/52, BGHZ 12, 213, 217 f.
- BGH, Urt. v. 18.11.2014 – VI ZR 47/13, Rn. 19; BGH, Urt. v. 10.05.2005 – VI ZR 366/03, NJW 2005, 2309, 2310; R. Schmidt, Schuldrecht AT, 13. Aufl. 2019, Rn. 1139; Walker, JuS 2015, 865, 873 f.
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 37 Rn. 25.
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Schuldrecht AT, 13. Aufl. 2019, Rn. 1140.
- BGH, Urt. v. 27.06.1961 – VI ZR 205/60, BGHZ 35, 317, 323.
- BGH, Urt. v. 29.10.1968 – VI ZR 137/67, BGHZ 51, 37, 40; Luckey, Jura 2002, 477, 480; Walker, JuS 2015, 865, 874.
- Diese liegt neben den Fällen des § 1664 I BGB auch bei § 1359 BGB und § 4 LPartG.
- BGH, Urt. v. 01.03.1988 – VI ZR 190/87, BGHZ 103, 338, 346 ff.
- BGH, Urt. v. 10.07.1974 – IV ZR 212/72, BGHZ 63, 51, 57; BGH, Urt. v. 20.12.1966 – VI ZR 53/65, BGHZ 46, 313, 316.
- BGH, Urt. v. 10.07.1974 – IV ZR 212/72, BGHZ 63, 51, 57; BGH, Urt. v. 20.12.1966 – VI ZR 53/65, BGHZ 46, 313, 316.