Gesetzlichkeitsprinzip
Gesetzlichkeitsprinzip
„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“ (Art. 103 II GG, § 1 StGB). Der deutsche Gesetzgeber hat dieses strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip in § 1 StGB mit der amtlichen Überschrift „Keine Strafe ohne Gesetz“ versehen.
Die lateinische Kurzformel „nullum crimen, nulla poena sine lege“ (= kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz) ist präziser.1 Mit dem Begriff „crimen“ ist dabei das Verbrechen im materiellen Sinne gemeint als kriminelle Tat, als Straftat gemeint. Eine strafbare Handlung (ein „crimen“) kann nur das sein, was der Gesetzgeber zuvor in einem Gesetz für strafbar erklärt hat. Auch die Strafe („poena“) muss der Gesetzgeber vorher nach Art (Geldstrafe, Freiheitsstrafe) und Höhe (Strafrahmen) festgelegt haben.
Das mit Verfassungsrang ausgestattete Gesetzlichkeitsprinzip konkretisiert den Vorbehalt des Gesetzes, der im Rechtsstaatsprinzip wurzelt (Art. 20 III GG) und den Gesetzgeber verpflichtet, grundrechtsrelevante belastende Eingriffe der öffentlichen Gewalt durch Gesetz selbst zu regeln. Es garantiert dem Bürger, dass sich die Strafbarkeit einer bestimmten Verhaltensweise nur aus einem vor der Tat erlassenen Gesetz ergeben kann. Deshalb spricht man auch von der Garantiefunktion des Strafgesetzes.2
Das Gesetzlichkeitsprinzip schützt den Bürger vor willkürlicher und unberechenbarer Strafverfolgung und soll ihm die Möglichkeit geben, sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass eine Strafbarkeit vermieden werden kann.3
Aus dem Gesetzlichkeitsprinzip ergeben sich vier Einzelprinzipien:
Rückwirkungsverbot
Die Garantiefunktion des Strafrechts verbietet die rückwirkende Schaffung oder Verschärfung von Strafgesetzen zu Lasten des Täters4 („nullum crimen sine lege praevia“).5 Dadurch soll verhindert werden, dass jemand aufgrund eines Gesetzes bestraft wird, das zur Tatzeit noch gar nicht in Kraft war.6
Das Rückwirkungsverbot bezieht sich nur auf den Bereich der Strafbarkeit. Zu Lasten des Bürgers dürfen keine gesetzlichen Regelungen erlassen werden, die in irgendeiner Weise die materielle Strafbarkeit eines Verhaltens betreffen.7 Die Änderung der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung bei gleichbleibendem Gesetzeswortlaut ist grundsätzlich nicht vom Schutzbereich des Rückwirkungsverbots umfasst.8 Das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung kann im Einzelfall lediglich zu einem (auch unvermeidbaren) Verbotsirrtum i.S.v. § 17 StGB führen.9
Nach § 2 I StGB ist die Rechtslage maßgebend, die zur „Zeit der Tat“ gilt. Eine Tat ist zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter oder der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen (§ 8 S. 1 StGB). Wann der Erfolg eintritt, ist nicht maßgebend (§ 8 S. 2 StGB).
Bestimmtheitsgebot
Eine Norm, die ein bestimmtes Verhalten unter Strafe stellt, muss mit hinreichender Bestimmtheit erkennen lassen, welches Verhalten strafbar ist und welche Strafe der Richter verhängen darf („nulla poena sine lege certa“).10 Die Voraussetzungen der Strafbarkeit müssen so genau umschrieben sein, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände auf den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen.11
Verbot von (belastendem) Gewohnheitsrecht
Art. 103 II GG verbietet die Bestrafung aufgrund von Gewohnheitsrecht.12 Gewohnheitsrecht entsteht aufgrund ständiger, gleichmäßiger und allgemein von den Beteiligten als verbindlich anerkannter Übung.13 Da das Gesetzlichkeitsprinzip eine Bestrafung ohne Gesetz verbietet und Gewohnheitsrecht gerade kein Gesetz darstellt, ist strafbegründendes oder strafschärfendes Gewohnheitsrecht schlechthin unzulässig („nulla poena sine lege scripta“).
Da das Gesetzlichkeitsprinzip den Bürger schützen soll, steht es der Herausbildung von Gewohnheitsrecht zugunsten des Täters nicht entgegen.14
Analogieverbot
Unter einer Analogie versteht man die Übertragung einer gesetzlichen Regel auf einen gesetzlich nicht geregelten oder vom Gesetzeswortlaut nicht mehr erfassten Fall.15 Sie setzt eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz voraus. Eine solche darf im Strafrecht nicht zu Lasten des Täters durch analoge Anwendung einer Vorschrift, die sich auf einen vergleichbaren Sachverhalt bezieht, geschlossen werden, und zwar weder in Bezug auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen noch hinsichtlich der Tatfolgen („nulla poena sine lege stricta“).16
Das Verbot strafbegründender bzw. strafverschärfender Analogien richtet sich an die Rechtsprechung. Es korrespondiert mit dem an den Gesetzgeber gerichteten Bestimmtheitsgebot.17
Eine Analogie zugunsten des Täters oder Teilnehmers ist hingegen zulässig.18
Von einer (unzulässigen) Analogie abzugrenzen ist die (zulässige und auch notwendige) Auslegung einer Strafnorm.19 Die Auslegung erfolgt anhand folgender Kriterien: (1) Jede Auslegung beginnt beim Wortlaut des Gesetzes. Was nicht dem Wortsinn zu entnehmen ist, geht von vornherein über die Norm hinaus und stellt eine unzulässige Analogie zu Lasten des Beschuldigten dar.20 (2) Sodann ist Systematik des Gesetzes in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, ob sich aus der Stellung der Norm im Gesetz Erkenntnisse gewinnen lassen. (3) Weiterhin sind Sinn und Zweck (der „telos“) der Norm zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf den Regelungsbereich des Tatbestandes zu ziehen. (4) Hilfsmittel der drei vorgenannten Auslegungsmethoden ist die Entstehungsgeschichte der Norm.21 Mit Blick auf das Schuldprinzip und die Strafzwecke gilt der Grundsatz: Je schwerer die angedrohte Strafe ist, desto einschränkender muss die Auslegung erfolgen.22
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 1.
- Der Schutzbereich des Art. 103 II GG beschränkt sich auf die Strafbarkeit, also auf das materielle Strafrecht. Außerhalb des Schutzbereichs liegen das formelle Strafrecht (Strafprozess- bzw. Strafverfahrensrecht) und die Maßregeln der Besserung und Sicherung gemäß § 61 StGB (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 5 – 7). Da die Vorschriften des Verjährungsrechts dem Verfahrensrecht zuzuordnen sind, ist die rückwirkende Verlängerung von Verjährungsfristen zulässig, sofern die Frist noch nicht abgelaufen ist (BVerfG, Beschl. v. 26.02.1969 – 2 BvL 23/68, BVerfGE 25, 269, 284 ff.; Satzger, Jura 2012, 435, 442; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 22).
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 2.
- BVerfG, Beschl. v. 24.10.1996 – 2 BvR 1853/94, BVerfGE 95, 96, 131; BVerfG, Urt. v. 05.02.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133, 171; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 3.
- Eine nachträgliche Besserstellung des Täters ist hingegen mit dem Rückwirkungsverbot vereinbar (vgl. § 2 III StGB).
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 17.
- BVerfG, Beschl. v. 24.10.1996 – 2 BvR 1853/94, BVerfGE 95, 96, 131; BGH, Urt. v. 03.11.1992 – 5 StR 370/92, BGHSt 39, 1, 29 (Strafbarkeit von Mauerschützen).
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 16.
- BGH, Urt. v. 20.03.1995 – 5 StR 111/94, BGHSt 41, 101, 111 f. (Tötungshandlungen durch Grenzsoldaten); Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 17; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 19.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 19.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 26.
- BVerfG, Beschl. v. 06.05.1987 – 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329, 342.
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 29.
- BVerfG, Beschl. v. 28.06.1967 – 2 BvR 143/61, BVerfGE 22, 114, 121.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 15.
- BVerfG, Beschl. v. 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 31.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 32.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 4 Rn. 31.
- Auch eine solche Analogie kommt allerdings nur in Betracht, wenn es sich um eine planwidrige Gesetzeslücke handelt (R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 33 f.)
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 37 – 46.
- BVerfG, Beschl. v. 01.09.2008 – 2 BvR 2238/07, NStZ 2009, 83, 84.
- Nach h. M. ist dem Willen des heutigen Gesetzgebers und dem heutigen Sinn des Gesetzes der Vorrang vor dem Willen des historischen Gesetzgebers einzuräumen (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 5 Rn. 11).
- BVerfG, Beschl. v. 06.05.1987 – 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329, 342 f.