Gesetzliche Rechtsscheinsvollmachten (§§ 170 - 173 BGB)

Gesetzliche Rechtsscheinsvollmachten (§§ 170 - 173 BGB)

Obwohl eine Vollmacht nicht wirksam erteilt wurde oder wieder erloschen ist, kann der Geschäftsgegner an ihren (Fort-)Bestand glauben.1 In diesem Glauben wird der Geschäftspartner zunächst durch die §§ 170 – 173 BGB geschützt. Darüber hinaus sind ungeschriebene Rechtsscheinsvollmachten anerkannt.

Die Haftung aus veranlasstem Rechtsschein ist ein allgemeines Rechtsprinzip. Wer den Schein erzeugt, dass ein rechtlich relevanter Umstand vorliegt, muss sich an diesem Rechtsschein festhalten lassen. Rechtsscheinstatbestände werden i. d. R. in vier Schritten geprüft:2 (1) Vorliegen eines Rechtsscheins, (2) Zurechenbarkeit, (3) Entschließung des Dritten im Vertrauen auf den gesetzten Rechtsschein (Kausalität) und (4) Schutzwürdigkeit des Dritten (Gutgläubigkeit). Nur ein voll Geschäftsfähiger kann für den durch ihn erzeugten Rechtsschein verantwortlich gemacht werden; nicht voll Geschäftsfähigen ist der Rechtsschein nicht zurechenbar.3

Die §§ 170 – 172 BGB enthalten drei unterschiedliche Tatbestände, aus denen Vertretungsmacht kraft Rechtsscheins folgt.4 Der Rechtsschein liegt darin, dass der Vertretene in bestimmter Weise einen Dritten oder die Allgemeinheit darüber informiert, dass er Vertretungsmacht erteilt (§ 170 HGB) oder erteilt hat (§§ 170, 171 BGB). Der Vertretene muss sich so behandeln lassen, als habe er Vollmacht erteilt und diese nicht wieder beseitigt.5

§ 170 BGB betrifft den Fall des Erlöschens einer zuvor wirksam erteilten Außenvollmacht. Im Gegensatz dazu befassen sich die §§ 171, 172 BGB mit Konstellationen des anfänglichen Nichtbestehens der Vollmacht.

Erloschene Außenvollmacht, § 170 BGB

Nach § 170 BGB bleibt eine wirksam erteilte6 Außenvollmacht (§ 167 I Alt. 2 BGB;) dem Dritten gegenüber solange in Kraft, bis ihm das Erlöschen von dem Vollmachtgeber angezeigt wird.

Die Erteilung der Außenvollmacht setzt den Rechtsschein, dass die Vollmacht so lange in Kraft bleibt, bis ihr Erlöschen demjenigen, dem gegenüber die Außenvollmacht erteilt wurde, angezeigt wird.7 § 170 BGB schützt den Dritten nur davor, dass eine wirksam erteilte Vollmacht ohne sein Wissen wieder erlischt.8 Der Wegfall der Vollmacht kann z. B. darauf beruhen, dass das Grundverhältnis endet (§ 168 S. 1 BGB) oder die Außenvollmacht gegenüber dem Vertreter widerrufen wurde (§ 168 S. 3 i.V.m. § 167 I BGB). Das durch die Außenvollmacht beim Dritten erzeugte Vertrauen kann der Vollmachtgeber zerstören, in dem er dem Dritten das Erlöschen der Vollmacht anzeigt.9 Schutzwürdig ist allein ein gutgläubiger Dritter. § 170 BGB findet deshalb gemäß § 173 BGB keine Anwendung, wenn der Dritte das Erlöschen der Vertretungsmacht bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts kennt oder kennen muss (§ 122 II BGB). Die Rechtsfolge des § 170 BGB besteht darin, dass sich der Vertretene dem Dritten gegenüber nicht auf das Erlöschen der Vollmacht berufen kann. Er muss sich so behandeln lassen, als ob die Vollmacht noch fortbestehen würde.

Aus Vorstehendem ergibt sich für § 170 BGB folgendes Prüfungsschema:

(1) Wirksame Erteilung einer Außenvollmacht
(2) Erlöschen der Vollmacht bis zur Vornahme des Rechtsgeschäfts
(3) Keine Zerstörung des Rechtsscheins durch Erlöschensanzeige
(4) Gutgläubigkeit des Dritten (§ 173 BGB)
RF: Der Vertretene muss sich so behandeln lassen, als ob die Vollmacht noch besteht.

Nach außen kundgegebene Innenvollmacht, § 171 BGB

Hat jemand durch Mitteilung an einen Dritten oder durch öffentliche Bekanntmachung kundgegeben, dass er einen anderen durch – nicht wirksam erteilte – Innen- oder Außenvollmacht bevollmächtigt habe, so ist der Bevollmächtige im ersten Fall dem Dritten und im zweiten Fall jedem gegenüber zur Vertretung berechtigt, bis die Kundgebung in derselben Weise, wie sie erfolgt ist, widerrufen wird (§ 171 BGB).

Der Unterschied zu § 170 HGB besteht darin, dass bei § 170 HGB die Vollmacht gegenüber dem Dritten erteilt wird; bei § 171 BGB muss derjenige, dem gegenüber die Kundgebung erfolgt, dagegen annehmen, dass der Vertretene zuvor eine Vollmacht erteilt hat und ihn jetzt nur darüber informiert.10 Entscheidend ist, dass eine Vollmacht bei Vornahme des Rechtsgeschäfts nicht (mehr) besteht, der Dritte hiervon jedoch infolge der Mitteilung 11 des Vollmachtgebers ausgeht.12 Der Vollmachtgeber beseitigt den Rechtsschein, indem er der Mitteilung in gleicher Weise einen Widerruf folgen lässt (§ 171 II BGB, actus contrarius). § 171 BGB findet nach § 173 BGB keine Anwendung, wenn der Dritte das Erlöschen der Vertretungsmacht bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts kennt oder kennen muss (vgl. § 122 II BGB).13 Sind die Voraussetzungen des § 171 BGB erfüllt, muss der Vertretene sich so behandeln lassen, als ob die Vollmacht (noch) besteht.

Aus Vorstehendem ergibt sich für § 171 BGB folgendes Prüfungsschema:

(1) Wirksame Mitteilung einer Innenvollmacht
(2) Erlöschen bzw. Unwirksamkeit der Vollmacht bis zur Vornahme des Rechtsgeschäfts
(3) Keine Zerstörung des Rechtsscheins (§ 171 II BGB, actus contrarius)
(4) Gutgläubigkeit des Dritten (§ 173 BGB)
RF: Der Vertretene muss sich so behandeln lassen, als ob die Vollmacht (noch) besteht.

Aushändigung einer Vollmachtsurkunde, § 172 BGB

Der Mitteilung einer Bevollmächtigung durch den Vollmachtgeber (§ 171 I Alt. 1 BGB) steht es gleich, wenn dieser dem Vertreter eine Vollmachtsurkunde ausgehändigt hat und der Vertreter sie dem Dritten vorlegt. Die Vertretungsmacht bleibt dann bestehen, bis die Vollmachtsurkunde dem Vollmachtgeber zurückgegeben oder für kraftlos erklärt wird (§ 172 BGB).

Der mit der Vollmachtsurkunde verbundene Rechtsschein ist dem Vertretenen nur dann zurechenbar, wenn er dem Vertreter die Urkunde ausgehändigt, d. h. willentlich übergeben hat.14 Die Vollmachtsurkunde muss echt sein und dem Dritten im Original vorgelegt werden; eine Kopie reicht nicht einmal dann, wenn sie (notariell) beglaubigt ist.15 Auf eine tatsächliche Einsichtnahme des Dritten in die Urkunde und damit auf die konkrete Kausalität der Urkundenvorlage für den Geschäftsabschluss kommt es hingegen nicht an.16 Ebenso wie bei § 171 BGB wird der Dritte nicht nur vor dem Erlöschen der Vollmacht geschützt, sondern auch davor, dass eine Vollmacht nicht (wirksam) erteilt worden ist. Der Vollmachtgeber kann den Rechtsschein zerstören, indem er sich die Urkunde gemäß § 175 BGB vom Bevollmächtigten zurückgeben oder sie nach Maßgabe des § 176 BGB für kraftlos erklären lässt. § 172 BGB findet nach § 173 BGB keine Anwendung, wenn der Dritte das Erlöschen der Vertretungsmacht bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts kennt oder kennen muss (vgl. § 122 II BGB).17 Liegen die Voraussetzungen des § 172 BGB vor, kann sich der Vertretene nicht auf die fehlende Vollmacht berufen; der Umfang der Vertretungsmacht ist allerdings auf den sich aus der Urkunde ergebenden Inhalt begrenzt.

Aus Vorstehendem ergibt sich für § 172 BGB folgendes Prüfungsschema:

(1) Aushändigung einer Vollmachtsurkunde und Vorlage beim Dritten
(2) Erlöschen bzw. Unwirksamkeit der Vollmacht bis zur Vornahme des Rechtsgeschäfts
(3) Keine Zerstörung des Rechtsscheins (Rückgabe oder Kraftloserklärung)
(4) Gutgläubigkeit des Dritten (§ 173 BGB)
RF: Der Vertretene muss sich so behandeln lassen, als ob die Vollmacht (noch) besteht.


  1. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 128 f.
  2. Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 24 Rn. 21.
  3. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 157.
  4. Hier und zum Folgenden: Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 24 Rn. 22.
  5. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 153.
  6. Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 24 Rn. 24.
  7. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 131 – 139.
  8. Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 24 Rn. 22, 24.
  9. Die Erlöschensanzeige ist eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung.
  10. Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 24 Rn. 29.
  11. Die Mitteilung ist eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung.
  12. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 140 – 146.
  13. Obwohl § 173 BGB nur auf § 171 II BGB („… bleibt bestehen …“) verweist, ist dem Dritten Vertrauensschutz auch dann zu versagen, wenn er weiß bzw. wissen muss, dass eine Vollmacht nicht (wirksam) erteilt wurde; für § 171 I BGB gilt § 173 BGB demzufolge analog (Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 145; Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 24 Rn. 32).
  14. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 147 – 152.
  15. BGH, Urt. v. 22.04.2008 – XI ZR 272/06, Rn. 14; BGH, Urt. v. 25.04.2006 – XI ZR 219/04, Rn. 23 ff.
  16. BGH, Urt. v. 25.04.2006 – XI ZR 219/04, Rn. 30.
  17. § 173 BGB gilt für § 172 I BGB – ebenso wie für § 171 I BGB (s.o.) – analog.