Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
Aufbau der Prüfung - Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
Im Europarecht existiert ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch. Beispiel: Es gibt eine Pauschalreiserichtlinie, die die Mitgliedsstaaten verpflichtet, Regelungen zu implementieren, wonach ein Pauschalreiseveranstalter eine Sicherheit für den Fall seiner Insolvenz schaffen muss, beispielsweise durch den Abschluss einer Versicherung oder durch Stellung von Bürgen. A ist Pauschalreisender und mit einem Veranstalter unterwegs, der in der Reisezeit des A in die Insolvenz geht. Dadurch entstehen bei A bestimmte Ausfälle. Da die BRD die Richtlinie noch nicht umgesetzt hat, bestehen keine Verpflichtungen des Veranstalters eine Sicherheit zu schaffen. Dies hat dieser auch nicht getan. A hat gegen den Veranstalter daher keine Ansprüche. Deshalb überlegt A wegen der Untätigkeit der BRD im Hinblick auf die Umsetzung der Richtlinie und die dadurch entstandenen Schäden gegen die BRD Ansprüche geltend zu machen. Hier könnte unter anderem ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch in Betracht kommen. Beispiel 2: A ist dänischer Bierhersteller und möchte gerne in Deutschland Bier verkaufen. A fängt sich immer wieder ein Bußgeld ein, da die deutschen Behörden auf das deutsche Reinheitsgebot pochen. Daher sieht A davon ab, Bier in Deutschland zu verkaufen. Er hält die betreffende Regelung im Biersteuergesetz für europarechtswidrig und möchte anlässlich der entstandenen Schäden Ansprüche gegen Deutschland geltend machen. Auch hier könnte unter anderem ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch in Betracht kommen.
A. Nationales Recht
I. § 839 BGB; Art. 34 GG
Im nationalen Recht könnte zunächst ein Anspruch aus Amtshaftung gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG einschlägig sein. Der Amtshaftungsanspruch setzt jedoch die Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht voraus. Die Aktivität der Legislative ist allerdings nicht drittbezogen. Erlässt der deutsche Bundestag kein Gesetz, um die Richtlinie umzusetzen, kann sich der Bürger nicht darauf berufen.
II. Enteignungsgleicher Eingriff
Auch ein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff scheidet aus, da dieser nur das Eigentum, nicht jedoch das Vermögen schützt.
III. Sonstiges
B. Europarecht
I. Art. 340 AEUV
Auf europäischer Ebene ist Art. 340 AEUV zu erwähnen. Dort ist allerdings nur die Haftung der EU für die Organe der EU geregelt, nicht aber die Haftung der einzelnen Mitgliedsstaaten für Verhalten der Organe der Mitgliedsstaaten.
II. Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
Zuletzt könnt ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch in Betracht kommen.
1. Herleitung
Ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch wird vom EuGH aus Art. 288 AEUV i.V.m. Art. 4 III EUV hergeleitet. Ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch beruht auf Art. 288 AEUV, da dieser unter anderem die Richtlinien regelt und die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die Richtlinien in geeigneter Form rechtzeitig umzusetzen. Weiterhin wird ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch auf Art. 4 III EUV gestützt. Denn dieser normiert den effet utile, also das Gebot der praktischen und effektiven Umsetzung des Europarechts. Die beste Primärpflicht nützt jedoch nichts, wenn die Nichterfüllung dieser Pflicht keine Konsequenzen hat. Der EuGH sieht es somit als ein Gebot der effektiven Umsetzung des Europarechts an, dass bei Nichterfüllung dieser Pflicht Sekundäransprüche der geschädigten Bürger in Betracht kommt. Zum Teil wird ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch auch aus Art. 340 AEUV hergeleitet. Das Institut ist jedoch allgemein anerkannt.
2. Voraussetzungen
Ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch hat drei Voraussetzungen.
a) Verleihung von Rechten
Zunächst verlangt ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch eine Verleihung von Rechten. Die Vorschrift, die missachtet wurde, muss mithin zum Zweck haben, Rechte zu verleihen. Im Falle der Grundfreiheiten vermitteln diese ohne Weiteres subjektive Rechtspositionen (Vergleiche den Reinheitsgebotsfall). Bei Richtlinien reicht Bestimmbarkeit der Rechte aus. Wenn sogar Bestimmtheit vorliegt, kommt auch eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie vor Umsetzung in Betracht. Dann würde man unmittelbar Ansprüche aus der Richtlinie herleiten und nicht auf das Institut des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs zurückgreifen.
b) Hinreichend qualifizierter Verstoß
Ferner setzt ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch einen hinreichend qualifizierten Verstoß voraus. Dieser liegt vor, wenn ein Organ oder Mitgliedsstaat bei der Rechtsetzung die Grenzen seiner Befugnisse offenkundig und erheblich überschreitet (Irrtumsmarge). Beispiel 1: Nichtumsetzung oder nicht rechtzeitige Umsetzung einer Richtlinie. Im Pauschalreisefall hätte die BRD danach einen hinreichend qualifizierten Verstoß begangen. Beispiel 2: Nichtanpassung des nationalen Rechts an das Europarecht. Das beträfe den Fall des deutschen Reinheitsgebots. Verstößt das deutsche Reinheitsgebot gegen die Warenverkehrsfreiheit, müsste der nationale Gesetzgeber das Biersteuergesetz entsprechend ändern. Tut die BRD dies nicht, wäre ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegeben.
c) Kausalität
Zuletzt fordert ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch Kausalität. Dies entspricht dem kausalen Schaden. Der Schaden muss folglich auf den Verstoß zurückzuführen sein.
3. Kein Ausschluss
Deutsche und andere Gerichte haben sich gefragt, ob ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch auch in bestimmten Fällen ausgeschlossen sein kann. Sie haben diese von ihnen anvisierten Ausschlussgründe dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt.
Zum einen könnte ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch ausgeschlossen sein, wenn keine Drittbezogenheit gegeben ist. Der Amtshaftungsanspruch wurde oben gerade verneint, weil die Pflicht nicht dem Schutz Dritter diente. Laut EuGH gilt die Drittbezogenheit gerade nicht für den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch. Auch könnte man denken, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch ein Verschulden voraussetzt. Der EuGH verneint auch dieses Erfordernis und verweist auf den Prüfungspunkt „hinreichend qualifizierter Verstoß“. Dieser enthalte bereits eine Verschuldenskomponente, da der Mitgliedsstaat offenkundig und erheblich die Grenzen seiner Befugnisse überschreiten müsse. Dies entspreche einer Fahrlässigkeitskomponente. Auch ist ein gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch nicht auf eine Entschädigung beschränkt. Vielmehr wird auch der entgangene Gewinn erfasst.
Schließlich ist zu beachten, dass die ordentlichen Gerichte (Zivilgerichte) zuständig sind. Das ergibt sich aus § 40 II VwGO. Hat ein Mitgliedsstaat Zweifel bei der Auslegung und Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs, muss bzw. kann das Gericht das Verfahren aussetzen und im Wege des Vorabentscheidungsverfahren dem EuGH die Frage vorlegen.