Fall: Warenautomat
Der G steht am Bahnhof und wartet auf seinen Zug. Ihm knurrt der Magen. Zum Glück sieht er auf dem Bahnsteig einen Warenautomaten mit zahlreichen Süßigkeiten. Diesem Anblick kann G nicht widerstehen. Er wirft eine Euromünze in den vorgesehenen Münzschlitz und tippt die vorgegebene Zahl für einen Schokoriegel, dessen Preis mit 1,00 EUR angegeben ist, in das Bedienfeld ein. Trotz ordnungsgemäßer Benutzung des Automaten wirft dieser den durch G ausgewählten Schokoriegel aber nicht aus. Auch das Drücken auf die Geldrückgabetaste führt nicht zum Auswurf der durch G eingeworfenen Euromünze.
Zufällig kommt gerade in diesem Moment der Automatenaufsteller S vorbei, um Münzen zu entnehmen und den Automaten mit frischer Ware zu bestücken. G berichtet dem S das Geschehene und verlangt von S ein Exemplar des von ihm gewählten Schokoriegels. S hat einen solchen Riegel aber nicht dabei und bietet dem G deshalb die Rückzahlung von 1,00 EUR an. G lehnt dies ab und besteht auf der Übergabe und Übereignung des Schokoriegels.
Kann G von S die Übergabe und Übereignung des Schokoriegels oder zumindest die Rückzahlung von 1,00 EUR verlangen?
Gliederung
- Anspruch des G gegen S aus § 433 I 1 BGB
- Zustandekommen eines Kaufvertrages
- a) Aufstellen eines Warenautomaten als invitatio ad offerendum
- b) Aufstellen eines Warenautomaten als offerta ad incertas personas
- Ergebnis zu I.
- Zustandekommen eines Kaufvertrages
- Anspruch des G gegen S aus § 812 I 1 Alt. 1 BGB
- Etwas erlangt
- Durch Leistung
- Ohne rechtlichen Grund
- Ergebnis zu II.
Gutachten
I. Anspruch des G gegen S aus § 433 I 1 BGB
Ein Anspruch des G gegen S auf Übergabe und Übereignung des Schokoriegels könnte sich aus Kaufvertrag gem. § 433 I 1 BGB ergeben. Dafür müsste zwischen G und S durch Angebot und Annahme ein entsprechender Kaufvertrag zustande gekommen sein (§§ 145 ff. BGB).
1. Zustandekommen eines Kaufvertrages
Das Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages könnte hier der S durch das Aufstellen des Warenautomaten unterbreitet haben. Zwar handelt es sich bei einem Angebot um eine empfangsbedürftige Willenserklärung, mit der dem Empfänger ein Vertragsschluss so angetragen werden muss, dass dieser dem Angebot lediglich uneingeschränkt zustimmen muss, um den Vertrag zustande zu bringen. Dies setzt neben einem entsprechenden Rechtsbindungswillen des Antragenden die inhaltliche Bestimmtheit des Angebots voraus, die grundsätzlich nur dann vorliegt, wenn das Angebot zumindest die wesentlichen Vertragsbestandteile (sog. essentialia negotii) umfasst. Hierzu zählen der Vertragsgegenstand, die Vertragsparteien und bei entgeltlichen Verträgen die Gegenleistung.
Regelmäßig ist ein Angebot nur dann als hinreichend bestimmt anzusehen, wenn – neben den sonstigen wesentlichen Vertragsbestandteilen – (auch) die Identität der Vertragsparteien bekannt ist.1 Allerdings kann der Antragende darauf verzichten, mit seinem Angebot bestimmte Personen anzusprechen, wenn es ihm gleichgültig ist, mit wem er den Vertrag schließt. Ein solches Angebot wird als offerta ad incertas personas bezeichnet und stellt ein verbindliches, an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtetes Angebot dar.
Ob das Aufstellen des Warenautomaten durch S in diesem Sinne als konkludentes Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages (auch) mit G anzusehen ist, muss durch Auslegung aus der maßgeblichen Sicht eines objektiven Empfängers (§§ 133, 157 BGB) bestimmen werden. Zwar sind mögliche Kaufgegenstände und -preise vorgegeben; allerdings steht weder die konkrete Ware als Vertragsgegenstand noch die Person des Vertragspartners fest, weshalb das Aufstellen eines Warenautomaten auch als bloße – ohne Rechtsbindungswillen erfolgende – Aufforderung zur Abgabe eines Angebots (invitatio ad offerendum) anzusehen sein könnte.2
a) Aufstellen eines Warenautomaten als invitatio ad offerendum
Teilweise wird in dem Aufstellen eines Warenautomaten noch kein Angebot gesehen; es handele sich nur um eine invitatio ad offerendum. 3 Der Kunde gebe das Angebot ab, indem er Geld in den Automaten werfe und – etwa durch Eingabe bestimmter Zahlen oder Betätigung sonstiger Tasten – die gewünschte Ware auswähle. Die Annahme des Warenaufstellers erfolge antizipiert und konkludent durch Herausgabe der Ware.
Da hier eine Warenausgabe nicht erfolgt ist, wäre nach dieser Auffassung ein durch Münzeinwurf und Eingabe der vorgegebenen Zahl für den Schokoriegel abgegebenes Angebot des G durch den S nicht konkludent angenommen worden. Ein Kaufvertrag zwischen G und S wäre demnach nicht zustande gekommen mit der Folge, dass ein auf Vertragserfüllung gerichteter Anspruch des G gegen S aus § 433 I 1 BGB nicht gegeben wäre.
b) Aufstellen eines Warenautomaten als offerta ad incertas personas
Die herrschende Gegenauffassung geht davon aus, dass es sich beim Aufstellen eines Warenautomaten um eine offerta ad incertas personas handelt.4 Der Automat enthalte mehrere verbindliche Vertragsangebote seines Aufstellers über unterschiedliche Waren. Es sei Sache des Kunden, sich zu entscheiden, welches dieser Angebote er durch Geldeinwurf und Warenauswahl annimmt.5 Auf den Zugang der Annahmeerklärung verzichte der Automatenbetreiber gemäß § 151 S. 1 BGB. Das Angebot des Aufstellers ist allerdings aus der Sicht eines verständigen, objektiven Kunden zum Schutze des Aufstellers, der sich andernfalls nach Vertragsschluss gemäß §§ 280 ff. BGB schadensersatzpflichtig machen würde, dreifach bedingt,6 nämlich (i) durch den ausreichenden Warenbestand, (ii) durch den Einwurf korrekter Münzen und (iii) das Funktionieren des Automaten. Eine solche Beschränkung des Vertragsantrags ist deshalb möglich, weil der Antragende sogar die Möglichkeit hätte, jegliche Bindung an seinen Antrag auszuschließen und es ihm deshalb a maiore ad minus7 auch möglich sein muss, seine Bindung einzuschränken bzw. mit Vorbehalten zu verknüpfen.8
Da G durch ordnungsgemäßen Geldeinwurf und Warenauswahl die Annahme erklärt hat, hängt ein wirksamer Vertragsschluss nach dieser Auffassung davon ab, ob die vorgenannten „Bedingungen“9 in diesem Zeitpunkt erfüllt waren. Dies ist nicht der Fall, weil der Automat zu diesem Zeitpunkt weder gefüllt noch funktionstüchtig war. Die Voraussetzungen für ein bindendes Angebot des S lagen nicht vor, sodass auch nach dieser Auffassung kein Kaufvertrag zwischen G und S zustande gekommen ist. Ein Streitentscheid ist deshalb entbehrlich.
2. Ergebnis zu I.
Ein Anspruch des G gegen S auf Übergabe und Übereignung des Schokoriegels aus § 433 I 1 BGB ist mangels Zustandekommens eines wirksamen Kaufvertrags zwischen den Parteien nicht gegeben.
II. Anspruch des G gegen S aus § 812 I 1 Alt. 1 BGB
G könnte jedoch gegen S einen Anspruch auf Rückzahlung von 1,00 EUR aus § 812 I 1 Alt. 1 BGB haben. Dafür müsste S durch Leistung des G „etwas“ im bereicherungsrechtlichen Sinne ohne rechtlichen Grund erlangt haben.
1. Etwas erlangt
Durch den Einwurf der Euromünze hat S an dieser gemäß § 929 S. 1 BGB Eigentum und unmittelbaren Besitz (§ 854 I BGB) erlangt. Dies stellt einen Vermögensvorteil und damit „etwas“ im bereicherungsrechtlichen Sinne dar.
2. Durch Leistung
Dies geschah „durch Leistung“ des G. Unter einer Leistung im Sinne der §§ 812 ff. BGB versteht man eine bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens,10 wobei im Fall des § 812 I 1 Alt. 1 BGB (condictio indebiti) der Bereicherungsgläubiger leistet, um Befreiung von einer (vermeintlichen) Verbindlichkeit zu erlangen (solvendi causa).11 G wollte durch den Einwurf der Geldmünze in den Warenautomaten nicht nur einen Kaufvertrag mit dem Automatensteller abschließen, sondern seine aus einem solchen Vertrag resultierende Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises gemäß § 433 II BGB zugleich erfüllen. Die Mehrung des Vermögens des S erfolgte mithin durch Leistung des G.
3. Ohne rechtlichen Grund
Im Falle des § 812 I 1 Alt. 1 BGB (condictio indebiti) erfolgt die Leistung „ohne rechtlichen Grund“, wenn der mit ihr verfolgte Zweck – Befreiung von einer (vermeintlichen) Verbindlichkeit – fehlschlägt.12 Dies ist hier deshalb der Fall, weil ein wirksamer Kaufvertrag zwischen G und S nicht zustande gekommen ist und G dementsprechend einen etwaigen Anspruch des S aus § 433 II BGB nicht erfüllen konnte.
4. Ergebnis zu II.
G kann somit von S gemäß § 812 I 1 BGB die Rückgabe und Rückübereignung der Euromünze verlangen. Sollte die konkrete Münze nicht mehr feststellbar und deren Herausgabe dem S somit i.S.v. § 275 I BGB unmöglich sein, schuldet S dem G gemäß § 818 II BGB Wertersatz i.H.v. 1,00 EUR.
- Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, Fall Nr. 5, S. 191.
- Fritzsche, Fälle zum BGB AT, 7. Aufl. 2019, Fall 10, Rn. 3.
- Medicus/Petersen, BGB AT, 11. Aufl. 2016, Rn. 362.
- Erman/Armbrüster, BGB, 15. Aufl. 2017, § 145 Rn. 8; Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 717; Hk-BGB/Dörner, 10. Aufl. 2019, § 145 Rn. 6.
- Staudinger/Bork, BGB, 2015, § 145 Rn. 8.
- Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, § 5 Rn. 19; Hk-BGB/Dörner, 10. Aufl. 2019, § 145 Rn. 6.
- Vgl. dazu Bitter/Rauhut, JuS 2009, 289, 297.
- Fritzsche, Fälle zum BGB AT, 7. Aufl. 2019, Fall 10, Rn. 5.
- Es handelt sich hierbei nicht um echte Bedingungen i.S.v. § 158 BGB, sondern um „Vorbehalte“ des Automatenaufstellers, mit denen er die Bindung an seinen Antrag beschränkt (Fritzsche, Fälle zum BGB AT, 7. Aufl. 2019, Fall 10, Rn. 5).
- BGH, Urt. v. 31.10.1963 – VII ZR 285/61, BGHZ 40, 272, 277.
- Jacoby/v Hinden, Studienkommentar BGB, 16. Aufl. 2018, § 812 Rn. 13.
- Jacoby/v Hinden, Studienkommentar BGB, 16. Aufl. 2018, § 812 Rn. 13.