Fall: Über die Oderbrücke

Die zwölfjährige K, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzt und mit ihren Eltern im polnischen Slubice wohnt, kauft im Elektrogeschäft ihres Landsmanns V in Frankfurt/Oder, wo V auch mit seiner Familie wohnt, mit ihrem gesparten Taschengeld ein gebrauchtes Handy zum Preis von 20,00 Euro, um endlich mit ihren Freunden telefonieren zu können. V hat sich dabei einen Ausweis der K vorlegen lassen, um sicherzugehen, dass sie ihr Taschengeld auch allein ausgeben darf. Als sie kurz darauf das abgelegte Smartphone ihrer Oma geschenkt bekommt, bereut sie den Kauf. Hiervon erzählt sie ihrer Cousine, die am Collegium Polonicum den Magisterstudiengang Recht belegt und deshalb weiß, dass man nach Art. 12 des polnischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) erst mit Vollendung des dreizehnten Lebensjahres überhaupt Geschäfte abschließen darf. Mit dieser Erkenntnis begibt sich K sofort zu V und verlangt ihr Geld zurück, was V jedoch verweigert. Zwar wisse er natürlich, dass man mit zwölf Jahren in Polen keine Verträge schließen dürfe, das polnische Recht gelte aber ja nur in Polen.

Hat K gegen V einen zivilrechtlichen Anspruch?

Bei der Bearbeitung ist zu unterstellen, dass das polnische IPR Verweisungen annimmt.

K könnte gegen V einen Anspruch auf Zahlung in Höhe von 20,00 Euro gemäß §§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, 818 Abs. 2 BGB haben.

I. Auslandsbezug

Fraglich ist aber, ob das deutsche Recht unmittelbar angewendet werden kann oder ob das anzuwendende Recht zunächst ermittelt werden muss. Hierfür ist maßgeblich, ob der Sachverhalt einen Auslandsbezug aufweist (Art. 3 a.E. EGBGB). An einen solchen Bezug dürfen keine hohen Anforderungen gestellt werden. K wohnt in Polen und ist polnische Staatsangehörige. Zwar ist auch V Pole, der Kauf, um den es hier geht, wurde aber in Deutschland abgewickelt. Damit liegt ein hinreichender Auslandsbezug vor und es muss zunächst das anzuwendende Recht ermittelt werden.

II. Anwendbares Recht

Welches Recht auf den Anspruch der K anzuwenden ist, bestimmt sich nach den Kollisionsnormen des deutschen IPR.

1. Einschlägige Kollisionsnorm

Das Bereicherungsstatut ergibt sich grundsätzlich aus Art. 10 Rom-II-VO, nach dessen Abs. 1 auch Zahlungen auf eine nicht bestehende Schuld erfasst sind. Allerdings richten sich die Folgen der Nichtigkeit eines Vertrages nicht nach Art. 10 Rom-II-VO, sondern unmittelbar nach dem Vertragsstatut. Dies ergibt sich aus Art. 12 Abs. 1 lit. e) Rom-I-VO. Im Ergebnis kommt es auf die Abgrenzung aber nicht an, weil nach Art. 10 Rom-II-VO sowieso das Vertragsstatut maßgeblich ist.

2. Vertragsstatut

Nach Art. 4 Abs. 1 lit. a) Rom-I-VO unterliegen Kaufverträge dem Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

a) Gewöhnlicher Aufenthalt

Es kommt folglich darauf an, wo Verkäufer V seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der gewöhnliche Aufenthalt befindet sich dort, wo eine Person ihren Daseinsmittelpunkt als Schwerpunkt ihrer familiären, sozialen und beruflichen Beziehung hat. V lebt und arbeitet in Frankfurt/Oder. Er hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt somit in Deutschland. Auf seine polnische Staatsangehörigkeit kommt es nicht an.

Vertragsstatut ist danach deutsches Recht.

b) Verbrauchervertrag

Etwas anderes könnte sich aus Art. 6 Abs. 1 Rom-I-VO ergeben. Danach kommt es bei einem Verbrauchervertrag auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Verbrauchers an. Es wäre deshalb polnisches Recht anzuwenden, wenn Art. 6 Rom-I-VO anwendbar ist, K den Vertrag als Verbraucherin mit V als Unternehmer geschlossen hat und die weiteren Voraussetzungen des Abs. 1 vorliegen.

aa) Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 Rom-I-VO

Nach Art. 6 Abs. 4 lit. a) Rom-I-VO ist Abs. 1 nicht auf Dienstleistungsverträge anwendbar, wenn die dem Verbraucher geschuldeten Dienstleistungen ausschließlich in einem anderen als seinem Aufenthaltsstaat erbracht werden müssen. Hierfür muss es sich vorliegend überhaupt um einen Dienstleistungsvertrag handeln. Dabei ist zu fragen, nach welchem Verständnis die Einordnung erfolgen soll. EU-Verordnungen werden grundsätzlich autonom, also aus sich heraus, ausgelegt. Auf das deutsche Verständnis, wonach es sich hier um einen Kaufvertrag handelt, kommt es deshalb nicht an. Eine Definition des Begriffs der Dienstleistungsverträge findet sich in der Rom-I-VO nicht. Für die Auslegung kann aber Art. 4 Abs. 1 Rom-I-VO herangezogen werden, der unter lit. a) ausdrücklich Kaufverträge anspricht, während Dienstleistungsverträge erst unter lit. b) angesprochen werden. Die Verordnung unterscheidet also zwischen beiden Vertragstypen. Deshalb handelt es sich auch nach europäischem Verständnis um einen Kaufvertrag. Die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 Rom-I-VO ist somit nicht ausgeschlossen.

bb) Voraussetzungen eines Verbrauchervertrages

K müsste diesen Kaufvertrag als Verbraucherin geschlossen haben. Nach der Legaldefinition ist das dann der Fall, wenn sie damit keinen Zweck verfolgt hat, der ihrer gewerblichen und beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Unabhängig davon, dass K noch minderjährig ist und es deshalb eher fernliegt, dass sie bereits einer solchen Tätigkeit nachgeht, hat sie das Handy zu dem Zweck gekauft, mit ihren Freunden telefonieren zu können. Sie hat den Vertrag also als Verbraucherin geschlossen.

Ein Verbrauchervertrag liegt aber nur vor, wenn V als Unternehmer, also in Ausübung seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit, gehandelt hat. V hat K das Handy in seinem Elektrogeschäft verkauft. Ein solches Geschäft stellt ein Gewerbe dar und die Tätigkeit des V war folglich gewerblich. V hat den Vertrag als Unternehmer geschlossen.

cc) Weitere Voraussetzung

Diese Voraussetzungen genügen aber noch nicht, um den Tatbestand der Kollisionsnorm zu erfüllen. Hinzukommen müsste vielmehr, dass V seine gewerbliche Tätigkeit in dem Staat ausübt, in dem K ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (lit. a). V betreibt sein Geschäft jedoch nicht in Polen, sondern in Deutschland. Art. 6 Abs. 1 Rom-I-VO wäre deshalb nur dann anwendbar, wenn er seine Tätigkeit auf irgendeine Weise auf Polen ausgerichtet hat und der Vertrag (lit. b). Dies wäre bspw. dann der Fall, wenn er im Internet oder in Slubice Werbung für sein Geschäft gemacht hätte. Hierzu finden sich jedoch keine Angaben im Sachverhalt, so dass auch diese Voraussetzung nicht vorliegt.

dd) Fazit

Der Umstand, dass der Kaufvertrag einen Verbrauchervertrag darstellt, bleibt deshalb ohne Relevanz. Art. 6 Abs. 1 Rom-I-VO ist nicht anwendbar.

3. Ergebnis

Es bleibt bei der Anwendung deutschen Rechts. Hierbei handelt es sich um eine Sachnormverweisung (Art. 20 Rom-I-VO). Vertragsstatut ist damit das materielle deutsche Zivilrecht.

III. Voraussetzungen des § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB

V muss den Kaufpreis durch eine rechtsgrundlose Leistung der K erlangt haben.

1. Leistung

Leistung ist jede bewusste Mehrung fremden Vermögens.

K hat den Kaufpreis zur Erfüllung ihrer Verpflichtung aus § 433 Abs. 2 BGB gezahlt (in solvendi causa). Damit hat sie bewusst das Vermögen des V als Gläubiger dieses Anspruchs gemehrt, also an ihn geleistet.

2. Ohne Rechtsgrund

Als Rechtsgrund der Kaufpreiszahlung kommt nur der Kaufvertrag in Betracht. Dies setzt aber voraus, dass er wirksam ist.

a) Geschäftsfähigkeit der K

Nach dem Sachverhalt kommt als einziger Unwirksamkeitsgrund der Umstand in Betracht, dass K noch minderjährig ist.

aa) Rechtslage nach deutschem Recht

Nach § 105 Abs. 1 BGB ist die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen nichtig. Nach § 104 Nr. 1 BGB ist geschäftsunfähig, wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat. K ist aber bereits zwölf und damit lediglich beschränkt geschäftsfähig (§ 106 BGB). Schließt ein beschränkt Geschäftsfähiger einen Vertrag, hängt dessen Wirksamkeit von der Zustimmung seiner gesetzlichen Vertreter ab (§ 107 Abs. 1 BGB). Vorliegend gibt es weder Anhaltspunkte für eine Einwilligung noch für eine Genehmigung. Allerdings könnte der Vertrag trotzdem (endgültig) wirksam sein. Hierzu müsste K den Kaufpreis mit Mitteln erfüllt haben, die ihr zur freien Verfügung standen (§ 110 BGB). Zu solchen Mitteln zählt insbesondere das Taschengeld. Nach dem Sachverhalt hat K genau damit den vollständigen Kaufpreis bezahlt. Der Vertrag würde also einen wirksamen Rechtsgrund für die Zahlung darstellen, so dass K keinen Bereicherungsanspruch gegen V hätte.

bb) Anwendbarkeit des deutschen Rechts

Dabei wurde aber vorausgesetzt, dass sich die Geschäftsfähigkeit nach deutschem Recht richtet. Ob dies richtig ist, müsste aber nicht geprüft werden, wenn sich auch bei Anwendung polnischen Rechts an diesem Ergebnis nichts ändern würde. Allerdings bestimmt Art. 12 des polnischen ZGB, dass Minderjährige erst ab einem Alter von 13 Jahren wirksam Verträge schließen können. K war bei Vertragsschluss erst zwölf. Somit wäre der Vertrag unwirksam und K hätte den Kaufpreis ohne Rechtsgrund gezahlt.

Zu klären ist deshalb das auf die Geschäftsfähigkeit anzuwendende Recht.

(1) Anknüpfung als Vorfrage

Dabei handelt es sich um eine Vorfrage des Bereicherungsanspruchs. Die Anknüpfung von Vorfragen kann unselbstständig nach dem IPR des Vertragsstatuts oder selbstständig nach dem IPR der lex fori erfolgen. Vorfragen in EU-Verordnungen und Staatsverträgen werden grundsätzlich unselbstständig angeknüpft, soweit die Verordnung bzw. der Staatsvertrag entsprechende Regelungen enthalten. Nach Art. 1 Abs. 2 lit. a) Rom-I-VO ist die Geschäftsfähigkeit vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen. Das auf die Geschäftsfähigkeit anzuwendende Recht muss deshalb nach deutschem IPR ermittelt werden. Einschlägig ist dabei Art. 7 EGBGB. Maßgeblicher Anknüpfungsmoment ist die Staatsangehörigkeit der K (Abs. 1 Satz 1). K ist polnische Staatsangehörige. Somit richtet sich ihre Geschäftsfähigkeit nach polnischem Recht. Das gilt jedoch nur dann, wenn das polnische Recht diese Verweisung annimmt, bei der sich um eine Gesamtverweisung handelt, die auch das polnische IPR umfasst (Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). Nach dem Bearbeitervermerk nimmt das polnische Recht die Verweisung an.

(2) Sonderregelung in Art 13 Rom-I-VO

Zu beachten ist allerdings Art. 13 Rom-I-VO. Danach kann sich eine natürliche Person, die sich in demselben Staat befindet wie ihr Vertragspartner und nach dem Recht dieses Staates geschäftsfähig wäre, nur dann auf ihre sich nach dem Recht eines anderen Staates ergebende Geschäftsunfähigkeit berufen, wenn die andere Vertragspartei bei Vertragsschluss diese Geschäftsunfähigkeit kannte oder infolge von Fahrlässigkeit nicht kannte.

Da K nur nach deutschem Recht (beschränkt) geschäftsfähig ist, stellt sich die Frage, ob sie und V sich in demselben Staat befinden. Nimmt man die Vorschrift wörtlich, wäre diese Voraussetzung zu verneinen, weil K in Polen lebt und V in Deutschland. Gemeint wäre dann der gewöhnliche Aufenthalt. Gegen dieses Verständnis spricht aber vor allem, dass die Verordnung den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts kennt und verwendet. Hätte der Verordnungsgeber also den gewöhnlichen Aufenthalt gemeint, hätte die Vorschrift entsprechend formuliert. Es kann folglich nicht maßgeblich sein, ob die Parteien zu irgendeinem Zeitpunkt sich in demselben Staat befinden. Vielmehr muss es darauf ankommen, ob sie dies bei Vertragsschluss taten. K und V haben den Vertrag im Geschäftslokal des V in Frankfurt/Oder geschlossen und befanden sich damit gemeinsam in Deutschland.

K kann sich deshalb auf ihre Geschäftsunfähigkeit nach polnischem Recht nur berufen, wenn V hiervon Kenntnis hatte oder ohne Fahrlässigkeit hätte haben müssen. Nach dem Sachverhalt wusste V, dass K nach polnischem Recht geschäftsunfähig war, er ging dabei aber davon aus, dass es hierauf nicht ankommt. Fraglich ist, ob ihn das entlastet. Nach dem Wortlaut des Art. 13 Rom-I-VO ist allein maßgeblich die Kenntnis der Geschäftsunfähigkeit des Vertragspartners nach dem fremden Recht. Diese kannte V. Damit liegen die Voraussetzungen von Art. 13 Abs. 1 Rom-I-VO vor. K kann sich deshalb auf ihre Geschäftsunfähigkeit nach polnischem Recht berufen.

cc) Fazit

K war bei Abschluss des Kaufvertrages mit V geschäftsunfähig.

b) Ergebnis

Der Kaufvertrag ist unwirksam und K hat den Kaufpreis ohne Rechtsgrund geleistet. Die Voraussetzungen von § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB liegen vor.

IV. Gesamtergebnis

K hat gegen V keinen Anspruch auf Zahlung in Höhe von 20,00 Euro nach §§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, 818 Abs. 2 BGB.