Fall: Trierer Weinversteigerung

Der S ist einer Einladung seines Freundes F gefolgt und besucht diesen in Trier, um dort mit F gemeinsam eine Weinversteigerung zu besuchen. F und S vereinbaren, sich direkt am Ort der Versteigerung zu treffen. Dort ange-kommen sieht S den F am anderen Ende des Saales und winkt ihm freudig zu. Dies fasst der G, der seine eigenen Weine versteigert, als Handzeichen und damit als Gebot des S auf und erteilt dem S, da kein höheres Gebot folgte, den Zuschlag zu einer Kiste Chardonnay zum Preis von 100 EUR. S war zwar mit den Gepflogenheiten auf derarti-gen Versteigerungen vertraut, wollte aber kein Gebot abgeben. Deshalb erklärt S dem G sofort, dass das Ganze ein Versehen gewesen sei und er gerne alles ungeschehen machen würde.
Kann G von S Zahlung von 100 EUR Zug um Zug gegen Übereignung des Kiste Chardonnay verlangen?

Gliederung

  1. Anspruch des G gegen S aus § 433 II BGB
    1. Anspruch entstanden
      1. Angebot des G durch Nachfrage
      2. Angebot des S durch Winken
        • a) Äußerer (objektiver) Erklärungstatbestand
        • b) Innerer (subjektiver) Erklärungstatbestand
          • aa) Handlungswille
          • bb) Erklärungsbewusstsein
          • cc) Geschäftswille
        • c) Wirksamwerden der Angebotserklärung
      3. Annahme des G durch Zuschlag
      4. Anspruch gemäß § 142 I BGB rückwirkend entfallen
        • a) Anfechtungsgrund
          • aa) Direkte Anwendung von § 119 I BGB
          • bb) Analoge Anwendung von § 119 I BGB
            • (1) Planwidrige Regelungslücke
            • (2) Vergleichbare Interessenlage
        • b) Anfechtungserklärung
        • c) Anfechtungsfrist
    2. Ergebnis

Gutachten

Ein Anspruch des G gegen S auf Zahlung von 100 EUR - Zug um Zug gegen Übereignung des Kiste Chardonnay – könnte sich aus dem Kaufvertrag gem. § 433 II BGB ergeben.

I. Anspruch entstanden

Dazu müssten G und S einen wirksamen Kaufvertrag geschlossen haben. Dies setzt zwei korrespondierende, in Bezug auf einander abgegebene und jeweils zugegangene Willenserklärungen mit dem Inhalt, dass die Kiste Chardonnay zum Preis von 100 EUR durch G an den S verkauft werden soll, voraus.

1. Angebot des G durch Nachfrage

Ein Angebot auf Abschluss des Kaufvertrages könnte bereits in der Nachfrage des G nach einem Gebot zu sehen sein. Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, mit der dem Empfänger ein Vertragsschluss so angetragen wird, dass dieser lediglich „Ja“ zu sagen braucht, um den Vertrag zustande zu bringen. Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Angebots sind die inhaltliche Bestimmtheit und der Rechtsbindungswille.

Die inhaltliche Bestimmtheit setzt grundsätzlich voraus, dass zumindest die wesentlichen Vertragsbestandteile (sog. essentialia negotii) enthalten sind. Hierzu zählen der Vertragsgegenstand, die Vertragsparteien und bei entgeltlichen Verträgen die Gegenleistung. Das Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages muss also den Kaufgegenstand, den Käufer und den Verkäufer sowie den Kaufpreispreis umfassen.

Der Rechtsbindungswille ist der Wille einer Person, sich rechtsgeschäftlich zu binden, also eine Verpflichtung einzugehen. Ob dieser Rechtsbindungswille bei Abgabe der Willenserklärung vorhanden war und dementsprechend ein Angebot vorliegt, ist durch Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) zu bestimmen. Der Rechtsbindungswille fehlt insbesondere bei der Einladung zur Abgabe eines Angebots (invitatio ad offerendum); der Rechtsbindungswille wird in diesen Fällen verneint, um der Gefahr der Mehrfachverpflichtung vorzubeugen und dem Erklärenden nicht die Freiheit der Vertragspartnerwahl zu nehmen.

Nach diesen Maßstäben ist in der Nachfrage kein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages zu sehen. Zwar stehen mit dem Kaufgegenstand und dem jeweils aufgerufenen Gebotspreis und dem Verkäufer sowie dem Bietenden als Käufer die wesentlichen Vertragsbestandteile fest, sodass eine inhaltliche Bestimmtheit vorliegt. Dass die Person des Bietenden bei der Aufforderung zur Abgabe eines Gebots noch nicht konkret feststeht, schadet nicht, weil sie als Höchstbietender zumindest bestimmbar ist (vgl. Fallgruppe offerta ad incertas personas). Es fehlt aber der erforderliche Rechtsbindungswille des nachfragenden Versteigerers. Die Nachfrage stellt eine bloße invitatio ad offerendum dar.1 Bestätigt wird dies durch die Vorschrift des § 156 BGB, die anordnet, dass bei Versteigerungen ein Vertragsschluss erst durch Zuschlag des Auktionators erfolgt. Wenn der Zuschlag die Annahme ersetzt, dann muss das (vorherige) Angebot im Gebot des Meistbietenden liegen. Die Nachfrage des G enthält also kein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages.

2. Angebot des S durch Winken

Als (konkludentes) Angebot könnte jedoch das Winken des S anzusehen sein. Als Willenserklärung setzt sich das Angebot aus einem äußeren (objektiven) und einem inneren (subjektiven) Erklärungstatbestand zusammen.

a) Äußerer (objektiver) Erklärungstatbestand

Der äußere Erklärungstatbestand einer Willenserklärung setzt eine erkennbare Willensbetätigung voraus, die auf einen Rechtsfolgewillen schließen lässt. Dies kann ausdrücklich oder konkludent (= schlüssig) erfolgen. Ob der äußere Erklärungstatbestand vorliegt, ist anhand des objektiven Empfängerhorizonts zu bestimmen (§§ 133, 157 BGB). Es ist danach zu fragen, ob ein verständiger Dritter in der konkreten Situation unter Berücksichtigung der Verkehrssitte und des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) das Verhalten als Willenserklärung verstanden hätte.2

Das Heben der Hand gilt auf Versteigerungen gemeinhin als Gebot (= Angebot). Ein objektiver Dritter in der Position des G durfte auch davon ausgehen, dass die anwesenden Teilnehmer mit den Gepflogenheiten einer Auktion vertraut sind. Dass S lediglich einen Freund begrüßen und kein Gebot abgeben wollte, war für den Auktionator nicht erkennbar. Deshalb ist das Verhalten des S aus objektiver Sicht eines Dritten in der Position des G als Angebot zu werten. Der äußere Erklärungstatbestand der Willenserklärung ist daher gegeben.

b) Innerer (subjektiver) Erklärungstatbestand

Fraglich ist, ob auch der innere (subjektive) Erklärungstatbestand vorliegt. Dieser setzt sich aus drei Komponenten zusammen: dem Handlungswillen, dem Erklärungsbewusstsein und dem Geschäftswillen.

aa) Handlungswille

Notwendiger Bestandteil jeder Willenserklärung ist der Handlungswille. Der Erklärende muss den äußeren Tatbestand der Willenserklärung bewusst gesetzt haben. Ohne ein bewusstes, willensgesteuertes Verhalten kann die Erklärung dem Handelnden nicht zugerechnet werden.

Der Handlungswille des S ist zu bejahen. Das Winken stellt ein bewusstes, willensgesteuertes Verhalten des S dar.

bb) Erklärungsbewusstsein

Zweiter subjektiver Bestandteil der Willenserklärung ist das Erklärungsbewusstsein. Darunter versteht man das Bewusstsein des Erklärenden, dass sein Verhalten irgendeine rechtserhebliche Erklärung darstellt. Daran fehlt es hier. Im Zeitpunkt des Winkens wollte S nur den F grüßen und keine rechtserhebliche Erklärung abgeben. Dem S war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass sein Verhalten als Abgabe eines Gebots aufgefasst würde. Ihm fehlte damit das (aktuelle) Erklärungsbewusstsein.

Fehlt das Erklärungsbewusstsein entgegen dem äußeren Anschein, ist streitig, ob dies das Vorhandensein einer Willenserklärung ausschließt.

Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, das Erklärungsbewusstsein sei eine notwendige Voraussetzung der Willenserklärung. Hierfür könnte insbesondere die Vorschrift des § 118 BGB sprechen. Wenn schon eine Erklärung nichtig ist, bei der der Erklärende mit Erklärungsbewusstsein handelt und nur darauf vertraut, dass der Empfänger den Mangel der Ernstlichkeit erkennt, dann müsse der Handelnde durch die Nichtigkeitsfolge erst recht dann geschützt werden, wenn ihm das Erklärungsbewusstsein fehlt.3

Bei genauerem Hinsehen überzeugt ein solcher Erst-Recht-Schluss aus § 118 BGB jedoch nicht.4 Aus § 118 BGB ist nicht zu schließen, dass fehlendes Erklärungsbewusstsein (oder fehlender Geschäftswille) ohne Anfechtung immer zur Nichtigkeit führe. Will der Erklärende, wie in § 118 BGB vorausgesetzt, bewusst keine Bindung in der Erwartung, dass dies auch erkannt werde, so entspricht die Nichtigkeit seinem Willen; ihm braucht die Wahl, dass Erklärte für und gegen sich gelten zu lassen oder nach § 119 BGB anzufechten, nicht eröffnet zu werden. Damit nicht zu vergleichen ist eine Erklärung ohne dass Bewusstsein, dass sie als rechtsgeschäftliche verstanden wird. Eine solche, ohne Erklärungsbewusstsein abgegebene Erklärung steht der irrtümlichen, als rechtserheblich gewollten Erklärung sehr viel näher. In beiden Fällen erscheint es angemessen, dem Erklärenden die Wahl zu lassen, ob er nach § 119 I BGB anfechten will und dann das Vertrauensinteresse nach § 122 BGB ersetzen muss oder ob er bei seiner Erklärung stehen bleiben will und dann eine etwaige Gegenleistung erhält, die ihn günstiger stellen könnte als seine einseitige Verpflichtung zum Ersatz des Vertrauensschadens.

Eine Willenserklärung liegt bei fehlendem Erklärungsbewusstsein allerdings nur dann vor, wenn sie als solche dem Erklärenden zugerechnet werden kann. Dass setzt voraus, dass der Erklärende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, dass seine Erklärung oder sein Verhalten vom Empfänger nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte als Willenserklärung aufgefasst werden durfte (potentielles Erklärungsbewusstsein) 5 und wenn der Empfänger sie auch tatsächlich so verstanden hat.6 Das gilt auch für schlüssiges Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein.7

S war mit den Gepflogenheiten auf derartigen Versteigerungen vertraut. Er hätte deshalb bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 II BGB) erkennen können, dass sein als Gruß an F gemeintes Winken von G als Angebot verstanden werden könnte. Da G dieses Verhalten des S auch tatsächlich als Abgabe eines Gebots im Rahmen der Versteigerung aufgefasst hat, liegt eine als Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages gerichtete Willenserklärung des S vor.

cc) Geschäftswille

Unter dem Geschäftswillen versteht man den Willen, eine ganz konkrete Rechtsfolge herbeizuführen. Dieser fehlte S, weil er durch das Winken lediglich den F grüßen und kein Gebot an G mit dem zielgerichteten Willen, die Kiste Chardonnay zum Preis von 100 EUR zu kaufen, abgeben wollte. Am Vorliegen eines Angebots des S ändert dies aber nichts, weil der Geschäftswille kein notwendiger Bestandteil einer Willenserklärung ist Fehlt er, liegt eine Willenserklärung vor, die ggf. nach Maßgabe der §§ 119 ff. BGB anfechtbar ist.

c) Wirksamwerden der Angebotserklärung

Es liegt nach alledem ein Angebot des S vor, dass dem W auch zugegangen und dementsprechend wirksam geworden ist (§ 130 I 1 BGB). Dass S den G „sofort“ nach dessen Zuschlag über die wahren Umstände aufgeklärt und diesen auf den wahren Beweggrund seines Winkens hingewiesen hat, ändert am Wirksamwerden der Angebotserklärung, bei der es sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung handelt, nichts. Insbesondere ist diese Erklärung durch S nicht mehr als rechtzeitiger Widerruf anzusehen. Die Willenserklärung wird nicht wirksam, wenn dem Empfänger vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht (§ 130 I 2 BGB). Dies heißt im Umkehrschluss: Ist die Willenserklärung dem Empfänger einmal zugegangen, kann sie nicht mehr widerrufen werden.8 Ein verspätet zugehender Widerruf ist bedeutungslos. So verhält es sich hier.

3. Annahme des G durch Zuschlag

Das Angebot des S hat G angenommen, indem er den Zuschlag erteilt hat. Von der regulären Vertragsannahme unterscheidet sich der Zuschlag i.S.v. § 156 BGB dadurch, dass er nicht empfangsbedürftig ist.9

4. Anspruch gemäß § 142 I BGB rückwirkend entfallen

Der vertragliche Primäranspruch des G gegen S aus § 433 II BGB könnte jedoch infolge einer wirksamen Anfechtung mit Rückwirkung (ex tunc) wieder entfallen sein (§ 142 I BGB).

a) Anfechtungsgrund

Als Anfechtungsgrund kommen sowohl ein Erklärungsirrtum (§ 119 I Alt. 2 BGB) als auch ein Inhaltsirrtum nach § 119 I Alt. 1 BGB) in Betracht.

Ein Erklärungsirrtum liegt vor, wenn Gewolltes und Erklärtes auseinanderfallen, weil sich der Erklärende eines Erklärungszeichens bedient hat, dessen er sich nicht bedienen wollte (Beispiele: Verschreiben, Versprechen, Vertippen, Verlesen, Vergreifen). In diesen Fällen ist schon der äußere Erklärungstatbestand der Willenserklärung nicht gewollt.

Beim Inhaltsirrtum irrt der Erklärende über den Sinn seiner Erklärung. Er verwendet zwar das gewollte Erklärungszeichen, verbindet mit diesem aber eine andere Bedeutung als sie ihm nach der normativen Auslegung zukommt.

Fraglich ist, ob sich die vorliegende Konstellation unter einen der beiden Fälle subsumieren lässt. Dies ist deshalb problematisch, weil der S überhaupt keine rechtserhebliche Erklärung abgeben wollte. Aufgrund seiner „Erklärungsfahrlässigkeit“10 musste sich S sein Verhalten gleichwohl als Willenserklärung zurechnen lassen.

aa) Direkte Anwendung von § 119 I BGB

Vom Wortlaut des Gesetzes könnte auch dieser Fall fehlenden Erklärungsbewusstseins in den Anwendungsbereich des § 119 I BGB fallen, und zwar sowohl unter die erste Alternative (Inhaltsirrtum) als auch unter die zweite Alternative (Erklärungsirrtum). Man könnte darauf abstellen, dass S mit dem Heben der Hand nicht den richtigen Inhalt – nämlich die Abgabe eines rechtlich bindenden Gebots im Rahmen der Versteigerung – verbunden hat und sich deshalb in einem Inhaltsirrtum gemäß § 119 I Alt. 1 BGB befunden hat.11 Auch könnte man darauf abstellen, dass S eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte, weil ihm jegliches Erklärungsbewusstsein fehlte, und er sich deshalb in einem Erklärungsirrtum gemäß § 119 I Alt. 2 BGB befand.12 Im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 119 I BGB ist indes nur der Fall geregelt, dass der Erklärende tatsächlich eine Willenserklärung abgeben wollte, ihm also allein der konkrete Geschäftswille, nicht aber auch schon das Erklärungsbewusstsein fehlte.13 Deshalb scheidet eine direkte Anwendung des § 119 I BGB – sowohl in der ersten als auch in der zweiten Alternative – aus.

bb) Analoge Anwendung von § 119 I BGB

In Betracht kommt jedoch eine analoge Anwendung des § 119 I BGB auf den vorliegenden Fall des fehlenden Erklärungsbewusstseins. Voraussetzung jeder Analogie ist das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage.14

(1) Planwidrige Regelungslücke

Eine Regelungslücke im Gesetz besteht – wenn man mit der hier vertretenen Auffassung eine direkte Anwendung des § 119 I BGB ablehnt – darin, dass der Erklärende seine Willenserklärung durch Anfechtung zwar in den Fällen fehlenden Geschäftswillens rückwirkend beseitigen kann, nicht aber dann, wenn ihm (sogar) das Erklärungsbewusstsein fehlt.15

Fraglich ist, ob diese Regelungslücke auch planwidrig ist. Dies wäre dann der Fall, wenn der Gesetzgeber eine Regelung unbewusst unterlassen hat, die nach der Konzeption des Gesetzes zu erwarten gewesen wäre. Davon ist hier auszugehen, da kein sachgerechter Grund ersichtlich ist, warum der Erklärende seine Erklärung bei fehlendem Geschäftswillen anfechten können soll, nicht aber bei fehlendem Erklärungsbewusstsein. Der Gesetzgeber hatte offenbar nur den Fall fehlenden Geschäftswilllens vor Augen. Hätte er jedoch daran gedacht, dass bei entsprechender „Erklärungsfahrlässigkeit“ auch ein Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein als Willenserklärung zurechenbar sein kann, hätte er aller Voraussicht nach auch für diesen Fall eine Regelung getroffen.

(2) Vergleichbare Interessenlage

Eine Analogie zu § 119 I BGB ist nur dann geboten, wenn neben der planwidrigen Regelungslücke auch der geregelte Fall mit dem nicht geregelten Fall vergleichbar ist. Dies ist zu bejahen. Wenn schon der fehlende Geschäftswille zur Anfechtung berechtigt, muss dies erst recht16 für den Fall des (fahrlässig) fehlenden Erklärungsbewusstseins gelten. In beiden Fällen wird eine nicht gewollte Rechtsfolge ausgelöst, die der Erklärende beseitigen möchte. Dabei kann es im Ergebnis dahinstehen, ob sich die Analogie auf § 119 I Alt. 1 BGB (Inhaltsirrtum), auf § 119 I Alt. 2 BGB (Erklärungsirrtum) oder – im Wege einer sog. Gesamtanalogie – insgesamt auf § 119 I BGB bezieht.

Ein Anfechtungsgrund ist damit vorliegend unabhängig von der Frage, ob man § 119 I Alt. 1 BGB (direkt oder analog) oder § 119 I Alt. 2 BGB (direkt oder analog) anwendet. In jedem Fall ist S zur Anfechtung seiner infolge fehlenden Erklärungsbewusstseins mangelhaften Willenserklärung berechtigt.

b) Anfechtungserklärung

Nach § 143 I BGB muss die Anfechtung gegenüber dem Anfechtungsgegner erklärt werden. Anfechtungsgegner ist hier der G als Vertragspartner des S (vgl. § 143 II Hs. 1 BGB). Fraglich ist jedoch, ob S dem G gegenüber die Anfechtung auch erklärt hat. Dies ist deshalb zweifelhaft, weil S das Wort „anfechten“ nicht gebraucht und den G lediglich darauf hingewiesen hat, dass das Ganze ein Versehen gewesen sei und er gerne alles ungeschehen machen würde. Dies ist aber unschädlich, weil es für das Vorliegen einer Anfechtungserklärung ausreicht, wenn der Erklärende unzweideutig zu erkennen gibt, dass das Rechtsgeschäft rückwirkend beseitigt werden soll. Es bedarf dabei nicht des ausdrücklichen Gebrauchs des Wortes „anfechten“; erforderlich ist aber, dass sich unzweideutig der Wille ergibt, das Geschäft gerade wegen des Willensmangels nicht bestehenlassen zu wollen.17 Dies ist hier der Fall, weil S auf sein „Versehen“ – den Willensmangel in Gestalt fahrlässig fehlenden Erklärungsbewusstseins – hingewiesen und seinen Wunsch, das Ganze „ungeschehen zu machen“, also seine Willenserklärung rückwirkend zu beseitigen (vgl. § 142 I BGB), zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht hat. Eine Anfechtungserklärung des S gegenüber G liegt folglich vor.

c) Anfechtungsfrist

Die Anfechtung muss unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern erfolgen (§ 121 I 1 BGB). Dies ist hier der Fall, weil S die Anfechtungserklärung gegenüber G „sofort“ abgegeben hat.

Damit liegen sämtliche Voraussetzungen der Anfechtung vor. Deshalb ist das Gebot des S und infolge dessen der Kaufvertrag zwischen G und S gemäß § 142 I BGB als von Anfang an nichtig anzusehen.

II. Ergebnis

G hat keinen Anspruch gegen S aus § 433 II BGB auf Zahlung von 100 EUR.

Anmerkung: Der S ist dem G dann allerdings nach § 122 I BGB zum Ersatz des Vertrauensschadens verpflichtet. Danach war hier aber nicht gefragt. Gleiches gilt für einen möglichen Anspruch wegen vorvertraglicher Pflichtverletzung gem. §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB (culpa in contrahendo).


  1. Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, Fall Nr. 35, S. 259.
  2. Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, Fall Nr. 35, S. 259.
  3. Staudinger/Singer, BGB (2017), Vor §§ 116 ff. Rn. 37 ff. u. § 122 Rn. 9 f.; Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl. 2016, § 32 Rn. 21 f.
  4. Zum Folgenden: BGH, Urt. v. 07.06.1984 – IX ZR 66/83, BGHZ 91, 324, 329 f.
  5. Zum Folgenden: BGH, Urt. v. 07.06.1984 – IX ZR 66/83, BGHZ 91, 324, 329 f.
  6. BGH, Urt. v. 24.02.2016 – XII ZR 5/15, Rn. 37; BGH, Urt. v. 16.12.2009 – XII ZR 146/07, Rn. 19; BGH, Urt. v. 13.07.2005 – VIII ZR 255/04, NJW 2005, 2620, 2621; Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 596.
  7. BGH, Urt. v. 14.12.2000 – IX ZR 300/98, ZIP 2001, 410.
  8. Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, § 5 Rn. 60.
  9. Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, Fall Nr. 35, S. 261; MünchKomm-BGB/Busche, 8. Aufl. 2018, § 156 Rn. 4.
  10. Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, Fall Nr. 35, S. 262.
  11. So Stadler, BGB AT, 19. Aufl. 2017, § 25 Rn. 38.
  12. MünchKomm-BGB/Armbrüster, 8. Aufl. 2018, § 119 Rn. 96.
  13. Grüneberg/Ellenberger, BGB, 83. Aufl. 2024, Vor § 116 Rn. 17.
  14. Allgemein zur Analogie siehe Bitter/Rauhut, JuS 2009, 289, 297 f.
  15. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, Fall Nr. 35, S. 263.
  16. Mit dem Erst-Recht-Schluss (argumentum a fortiori) soll ein Sachverhalt, der als mindestens genauso regelungsbedürftig erscheint, der Regelung eines anderen Sachverhalts unterworden werden. In aller Regel handelt es sich – wie auch hier – um einen verdeckten Analogieschluss (Bitter/Rauhut, JuS 2009, 289, 297).
  17. BGH, Urt. v. 07.06.1984 – IX ZR 66/83, BGHZ 91, 324, 331 f.