Fall: Abhandengekommene Willenserklärung
Der R, ein selbständiger Rechtsanwalt, erwägt seit Längerem den Erwerb einer gebundenen Gesamtausgabe der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (BGHZ). Gerne würde er damit sein Besprechungszimmer schmücken und Mandanten beeindrucken. Als sich eines Tages in der Posteingangsmappe, die ihm seine Sekretärin (S) vorgelegt hat, ein Bestellformular des Verlages V für die BGHZ-Sammlung zum Aktionspreis von 1.200 EUR findet, füllt R dieses aus und unterschreibt es. Auf dem Bestellformular des V heißt es: „Angebot freibleibend – wir behalten uns vor, Ihr Angebot nach Verfügbarkeit der bestellten Ware anzunehmen.“
Da die Mandanten des R seit einigen Wochen nur zögerlich die Honorarrechnungen des R begleichen und sein Mandatsaufkommen zudem auch noch rückläufig ist, möchte sich R die Investition aber noch einmal in Ruhe überlegen und noch „eine Nacht darüber schlafen“. Deshalb lässt er die Posteingangsmappe, in der sich auch weitere von R bearbeitete Schriftstücke befinden, auf seinem Schreibtisch liegen und reicht sie – wie sonst üblich – nicht in das Rücklauffach im Arbeitszimmer der S zurück.
Die anstehende Entscheidung, ob die schon lange herbeigesehnte BGHZ-Sammlung erworben werden soll, hat den R zunächst nicht einschlafen und am nächsten Morgen nur verspätet aufwachen lassen. Nach dem ersten Morgenkaffee ist R sich aber sicher: Die finanzielle Vernunft müsse siegen, er werde das Bestellformular nicht absenden.
Als R deutlich später als sonst in die Kanzlei kommt und auf seinen Schreibtisch sieht, findet er die Posteingangsmappe des Vortags dort nicht mehr vor. Auf Nachfrage erklärt die S, die schon vor einigen Stunden mit der Arbeit begonnen hatte, sie habe sich die Postmappe vom Schreibtisch des R geholt, weil sie davon ausgegangen sei, der R habe nur vergessen, diese in das Rücklauffach im Bürozimmer der S zu legen. Das Bestellformular habe sie bereits an den V gefaxt und V habe den Vertragsschluss auch schon per Fax bestätigt. Zur großen Überraschung der S freut sich der R über diesen Arbeitseinsatz seiner Sekretärin nicht. R ruft sofort bei V an und stellt und Schilderung des Geschehens klar, dass er die BGHZ-Sammlung nicht haben möchte und V von der noch nicht ausgeführten Versendung an ihn doch bitte Abstand nehmen möge.
Kann V von R Zahlung von 1.200 EUR Zug um Zug gegen Übereignung der BGHZ-Sammlung verlangen?
Gliederung
Anspruch des V gegen R aus § 433 II BGB
- Anspruch entstanden
- Angebot des V durch Zusendung des Bestellformulars
- Angebot des R durch Ausfüllen des anschließend per Fax versandten Bestellformulars
- a) Objektiver und subjektiver Erklärungstatbestand
- b) Wirksamwerden der Erklärung
- aa) Zugang bei V
- bb) Abgabe durch R
- (1) Alleiniges Abstellen auf die objektive Erklärung
- (2) Verschuldens- und risikobasierte Ansätze
- (3) Erforderlichkeit eines Abgabewillens
- (4) Stellungnahme
- c) Ergebnis zu 2.
- Vertragsschluss durch Schweigen auf das Bestätigungsfax des V
- Ergebnis
Gutachten
Ein Anspruch des V gegen R auf Zahlung von 1.200 EUR – Zug um Zug gegen Übereignung der BGHZ-Sammlung – könnte sich aus dem Kaufvertrag gem. § 433 II BGB ergeben.
I. Anspruch entstanden
Dafür müssten V und R einen wirksamen Kaufvertrag geschlossen haben. Dies setzt zwei korrespondierende, in Bezug auf einander abgegebene und jeweils zugegangene Willenserklärungen mit dem Inhalt, dass die BGHZ-Sammlung zum Preis von 1.200 EUR durch V an den R verkauft werden soll, voraus.
1. Angebot des V durch Zusendung des Bestellformulars
Ein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages könnte bereits im Zusenden des Bestellformulars durch V zu sehen sein. Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, mit der dem Empfänger ein Vertragsschluss so angetragen wird, dass dieser lediglich „Ja“ zu sagen braucht, um den Vertrag zustande zu bringen. Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Angebots sind die inhaltliche Bestimmtheit und der Rechtsbindungswille.
Die inhaltliche Bestimmtheit setzt grundsätzlich voraus, dass zumindest die wesentlichen Vertragsbestandteile (sog. essentialia negotii) enthalten sind. Hierzu zählen der Vertragsgegenstand, die Vertragsparteien und bei entgeltlichen Verträgen die Gegenleistung. Das Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages muss also den Kaufgegenstand, den Käufer und den Verkäufer sowie den Kaufpreis umfassen.
Der Rechtsbindungswille ist der Wille einer Person, sich rechtsgeschäftlich zu binden, also eine Verpflichtung einzugehen. Ob dieser Rechtsbindungswille bei Abgabe der Willenserklärung vorhanden war und dementsprechend ein Angebot vorliegt, ist durch Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) zu bestimmen. Der Rechtsbindungswille fehlt insbesondere bei der Einladung zur Abgabe eines Angebots (invitatio ad offerendum); der Rechtsbindungswille wird in diesen Fällen verneint, um der Gefahr der Mehrfachverpflichtung vorzubeugen und dem Erklärenden nicht die Freiheit der Vertragspartnerwahl zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben ist in dem Zusenden des Bestellformulars durch V kein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages zu sehen. Es stehen mit dem Kaufgegenstand und dem Kaufpreis sowie dem Verkäufer nicht alle wesentlichen Vertragsbestandteile fest. Hierzu zählt auch die Person des Käufers. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass dem V die konkrete Person des Käufers gleichgültig ist und es insoweit allein auf die Bestimmbarkeit des (jeweiligen) Käufers ankommt; bestimmbar wäre der Käufer dadurch, dass es die das Bestellformular jeweils ausfüllende Person ist. Hierfür könnte auch sprechen, dass die Bestellformulare durch V vermutlich nur an Juristen versandt wurden, weil nur diese ernsthaftes Interesse an einer BGHZ-Sammlung haben dürften. Es hat also sehr wahrscheinlich eine Vorauswahl potentieller und aus Sicht des V geeigneter Käufer stattgefunden, sodass hier eine bloße Bestimmbarkeit des (jeweiligen) Käufers ausreichen könnte. Umgekehrt wäre es aber auch denkbar, dass es dem V aufgrund des verhältnismäßig hohen Kaufpreises doch auf die konkrete Person des Käufers und dessen Bonität ankommt.
Im Ergebnis kann dies aber auch dahinstehen, weil das „Angebot“ des V ausdrücklich als „freibleibend“ bezeichnet wurde. Eine solche „Freibleibend-Klausel“ schließt die Bindungswirkung des Angebots in Gänze aus.1 Es fehlt dem V der erforderliche Rechtsbindungswille, und zwar – losgelöst von den vorstehenden Überlegungen zur Bedeutung der konkreten Person des Käufers und dessen Bonität – schon deshalb, weil sich V ausdrücklich vorbehalten hat, ein Angebot des jeweiligen Kunden nach Prüfung der Verfügbarkeit der jeweils bestellten Ware selbst anzunehmen. Mit dieser Formulierung im Bestellformular hat V klar zum Ausdruck gebracht, dass die Zusendung des Bestellformulars selbst noch kein bindendes Angebot ist, sondern vielmehr die Aufforderung an alle Adressaten zur Abgabe eines Angebots mit dem aus dem Bestellformular ersichtlichen Inhalt (Fall der invitatio ad offerendum).
2. Angebot des R durch Ausfüllen des anschließend per Fax versandten Bestellformulars
Es könnte jedoch ein Angebot des R vorliegen, da dieser das Bestellformular ausgefüllt und unterschrieben hat.
a) Objektiver und subjektiver Erklärungstatbestand
Der objektive (äußere) Erklärungstatbestand einer Angebotserklärung liegt vor. Im Zeitpunkt des Ausfüllens und Unterschreibens des Bestellformulars entsprachen auch der Handlungswille, das Erklärungsbewusstsein und der Geschäftswille des R dem objektiv Erklärten. Es liegt mithin eine fehlerfreie Willenserklärung des V vor.
b) Wirksamwerden der Erklärung
Fraglich ist, ob diese Willenserklärung auch wirksam und für R rechtlich bindend geworden ist. Bei der Angebotserklärung des R handelt es sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Empfangsbedürftig sind solche Willenserklärungen, die gegenüber einer anderen Person abzugeben sind. Sie werden nicht bereits mit der Abgabe, sondern erst mit dem Zugang beim Empfänger wirksam (§ 130 I 1 BGB).
aa) Zugang bei V
Im Sinne des § 130 I 1 BGB zugegangen ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung unter Abwesenden – eine solche liegt hier vor – dann, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass unter normalen Umständen mit deren Kenntnisnahme zu rechnen ist. Dies ist hier der Fall, weil das Bestellformular per Fax an den V versandt wurde und mit dem Faxausdruck in den Machtbereich des V gelangt ist.2
bb) Abgabe durch R
Der Zugang allein reicht für das Wirksamwerden der Angebotserklärung des R allerdings nicht aus. Hierzu bedarf es vielmehr auch einer (wirksamen) Abgabe der Erklärung durch R. Erst mit ihrer Abgabe wird eine Willenserklärung rechtlich existent (vgl. §§ 119 I, 130 II BGB).3
Dem steht auch die Vorschrift des § 130 I 1 BGB nicht entgegen, da diese nur anordnet, dass eine Willenserklärung, die einem anderen gegenüber abzugeben ist, in dem Zeitpunkt wirksam wird, in welchem sie dem Empfänger zugeht. Damit ist aber nicht zwingend auch festgelegt, dass der Zugang allein das Wirksamwerden begründet. Hierfür ist als weitere (notwendige) Voraussetzung auch eine wirksame Abgabe durch den Erklärenden erforderlich.
Eine Abgabe empfangsbedürftiger Willenserklärungen setzt jedenfalls voraus, dass die Erklärung in Richtung auf den Empfänger so auf den Weg gebracht wurde, dass sie den Adressaten unter normalen Umständen erreichen kann.4 Dies ist hier schon deshalb zu bejahen, weil das von R ausgefüllte und unterschriebene Bestellformular dem V später tatsächlich zugegangen ist.
Fraglich ist, ob die Abgabe weiter voraussetzt, dass die Erklärung mit dem Willen des Erklärenden in den Verkehr entlassen wird. Dies ist umstritten.
(1) Alleiniges Abstellen auf die objektive Erklärung
Teilweise wird die Auffassung vertreten, für die Wirksamkeit einer empfangsbedürftigen Willenserklärung sei allein auf den objektiven Umstand der Versendung abzustellen; auf den Abgabewillen des Erklärenden komme es daneben nicht an.5 Nach dieser Auffassung hat R ein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages mit V abgegeben.
(2) Verschuldens- und risikobasierte Ansätze
Andere vertreten den Standpunkt, es sei eine Parallele zum Fall des fehlenden Erklärungsbewusstseins (vgl. Fall „Die Trierer Weinversteigerung“) zu ziehen. Der Versender müsse die abhandengekommene Willenserklärung gegen sich gelten lassen, wenn er fahrlässig dazu beigetragen hat, dass diese in den Rechtsverkehr gelangt ist.6 Fahrlässig handelt nach § 276 II BGB, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
Hier könnte man an ein Organisationsverschulden des R denken, weil er das Bestellformular nicht nur ausgefüllt, sondern bereits unterschrieben und nicht – etwa durch einen klarstellenden Vermerk auf einem „Klebzettel“ o. ä. – verdeutlicht hat, dass er eine Versendung noch nicht wünsche. Für ein fahrlässiges Verhalten des R spricht auch, dass er das Bestellformular nicht aus der Posteingangsmappe, in der sich auch andere Schriftstücke befanden, herausgenommen und zumindest die weiteren Schriftstücke an seine Sekretärin zurückgereicht hat; dies könnte bei S den Eindruck genährt haben, der R habe es lediglich vergessen, ihr die Postmappe zurückzugeben. Ebenfalls zu denken ist an ein Instruktionsverschulden des R, weil er die S nicht ausdrücklich angewiesen hat, die auf seinem Schreibtisch befindliche Postmappe nicht von seinem Schreibtisch zu entfernen und die darin befindliche Post noch nicht weiter – durch Versendung usw. – zu bearbeiten. Obgleich es in der Kanzlei des R sonst üblich ist, dass R die von ihm bearbeitete Postmappe in das Rücklauffach im Arbeitszimmer der S zurücklegt, sprechen die besseren Gründe für die Bejahung eines fahrlässigen Verhaltens des R. Deshalb ist auch nach dieser Auffassung von einem Angebot des R auf Abschluss eines Kaufvertrages mit V auszugehen.
Zu demselben Ergebnis gelangt man dann, wenn man als Grund für die Zurechnung der Willenserklärung nicht auf ein Verschulden des Erklärenden, sondern stattdessen auf eine Aufteilung nach Risikosphären abstellt. Die Willenserklärung wurde nämlich in der Risikosphäre des R – und nicht in derjenigen des V – auf den Weg gebracht. Salopp formuliert: Am Absendungsvorgang des Bestellformulars war R „näher dran“ als der V.
(3) Erforderlichkeit eines Abgabewillens
Die (wohl) herrschende, insbesondere vom BGH vertretene Auffassung will den Erklärenden demgegenüber nur dann an seine Erklärung gebunden wissen, wenn er diese willentlich in den Rechtsverkehr entäußert hat. Für eine Abgabe sei erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Willenserklärung mit dem Willen des Erklärenden in den Verkehr gelangt ist und der Erklärende damit rechnen konnte und gerechnet hat, sie werde – auf welchem Weg auch immer – den Erklärungsadressaten erreichen.7 Nach dieser Auffassung ist eine Angebotserklärung des R mangels bewusster und gewollter Abgabe durch V zu verneinen.
(4) Stellungnahme
Im Ausgangspunkt ist den drei erstgenannten Auffassungen zuzugestehen, dass die Situation für den Empfänger einer „abhandengekommenen Willenserklärung“ misslich ist, weil er dem ihm zugegangenen Brief nicht ansehen kann, dass er ohne den Willen des Erklärenden abgeschickt wurde.8 Dies allein kann aber nicht ausreichen, um auf der Primärebene einen wirksamen Vertragsschluss zu bejahen. Auch lässt sich der Fall fehlender (bewusster und gewollter) Abgabe nicht dem des fehlenden Erklärungsbewusstseins gleichstellen, da – in Abgrenzung zum Fall „Die Trierer Weinversteigerung“ – kein willentliches Verhalten des Absenders gegenüber der Außenwelt vorliegt. Es ist zudem zu beachten, dass nach der Auffassung, die diese Parallele zieht und einen verschuldensbasierten Ansatz verfolgt, dem Erklärenden die Anfechtung nach § 119 I BGB (analog) zugesteht, was im Ergebnis zu einer Haftung nach § 122 BGB (analog) führt.9 Dies aber lässt sich dogmatisch kaum sauber begründen, da anders als in den Fällen der §§ 119, 122 BGB im Falle einer abhandengekommenen Willenserklärung eben kein zurechenbares Verhalten des Erklärenden gegenüber der Außenwelt vorliegt.
Hinzu kommt, dass ein Verschulden ohnehin kein ausreichender Grund sein kann, um die Bindungswirkung einer Willenserklärung zu rechtfertigen. Selbst wenn der Erklärende durch fahrlässiges Verhalten einen entsprechenden Rechtsschein für eine Willenserklärung gesetzt hat, würde sich die Rechtsscheinshaftung lediglich auf Schadensersatz, nicht aber auf Einhaltung des Rechtsscheins richten.10
Für die letztgenannte Auffassung spricht in gesetzessystematischer Hinsicht zudem die Vorschrift des § 172 I BGB, die einen ähnlichen Fall regelt:11 Nach § 172 I BGB ist der Aussteller einer Vollmachtsurkunde nur dann an deren Inhalt gebunden, wenn er sie dem Vertreter „ausgehändigt“ hat. Hier ist man sich einig, dass eine abhandengekommene Vollmachtsurkunde, die ohne den Willen des Geschäftsherrn zum Vertreter gelangt ist, den Aussteller nicht bindet, und zwar auch nicht nach Rechtsscheinsgrundsätzen.12 Da die Erteilung der Vollmacht gemäß § 167 I BGB ebenfalls eine (empfangsbedürftige) Willenserklärung ist, kann man § 172 I BGB als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes verstehen, wonach Willenserklärungen im BGB zu ihrer Wirksamkeit immer einer willensgetragenen Abgabe bedürfen.13
Die letztgenannte Auffassung kann sich weiterhin auch auf den Willen des historischen Gesetzgebers berufen.14 In den Motiven zum BGB aus dem Jahre 1888 heißt es wörtlich (in neuer Rechtschreibung dargestellt):15
„… Selbstverständlich ist, dass die Willenserklärung dem anderen Teil infolge des Willens des Erklärenden zugekommen sein muss; es genügt nicht, dass ein Unberufener den auf dem Schreibtisch liegen gebliebenen Brief befördert oder die zufällig gehörte Äußerung dem Dritten mitteilt. …“
Nach alledem sprechen die besseren Gründe für die Auffassung, die eine Abgabe empfangsbedürftiger Willenserklärungen nur dann bejaht, wenn diese mit Wissen und Wollen des Erklärenden in Richtung auf den Empfänger so auf den Weg gebracht ist, dass sie den Adressaten unter normalen Umständen erreichen kann. Es ist dazu erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Willenserklärung mit Willen des Erklärenden in den Verkehr gelangt und der Erklärende damit rechnen konnte und gerechnet hat, sie werde – auf welchem Wege auch immer – dem Erklärungsadressaten zugehen.16
Einen solchen Willen hatte der R nicht. Der R hat die Abgabe seiner Willenserklärung, wozu er in der Lage gewesen wäre,17 auch nicht genehmigt. Dementsprechend fehlt es an der für das Wirksamwerden der Angebotserklärung erforderlichen Abgabe durch R.
c) Ergebnis zu 2.
Ein Angebot des R durch Ausfüllen des anschließend per Fax versandten Bestellformulars liegt mangels Abgabe nicht vor.
3. Vertragsschluss durch Schweigen auf das Bestätigungsfax des V
Ein Kaufvertrag ist auch nicht nach Maßgabe der Grundsätze über das Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben zustande gekommen. Zwar steht der R als selbständiger Rechtsanwalt und damit als Unternehmer i.S.v. § 14 BGB, von dem ein kaufmännischer Umgang mit einem Bestätigungsschreiben zu erwarten ist, einem Kaufmann i.S.v. §§ 1 ff. HGB wertungsmäßig gleich.18 Jedoch hat R den V sofort angerufen und dem Vertragsschluss damit i.S.v. § 121 I 1 BGB unverzüglich widersprochen, sodass er nicht geschwiegen hat und seinem Verhalten dementsprechend auch nicht ein dahingehender Erklärungswert, einem Vertragsschluss mit dem Inhalt des Bestätigungsschreibens würde zugestimmt, beigemessen werden kann.
Damit ist ein Anspruch des V gegen R aus § 433 II BGB mangels Abschlusses eines Kaufvertrages schon nicht entstanden.
II. Ergebnis
V kann von R nicht die Zahlung von 1.200 EUR Zug um Zug gegen Übereignung der BGHZ-Sammlung verlangen.
Anmerkung: Die Fallfrage zielt nur auf einen Anspruch des V gegen R aus § 433 II BGB, d. h. auf einen auf Vertragserfüllung gerichteten Primäranspruch. Dieser ist selbst nach dem verschuldensbasierten Ansatz zu verneinen, weil der Anruf des R bei V als Anfechtungserklärung gemäß § 143 BGB auszulegen und R nach dieser Auffassung gemäß § 119 I BGB (analog) zur Anfechtung berechtigt ist. Entscheidende Unterschiede zwischen den dargestellten Auffassungen gibt es lediglich auf der Sekundärebene. Teilweise wird dem Empfänger der abhandengekommenen Willenserklärung ein verschuldensunabhängiger Anspruch aus § 122 I BGB (analog), gerichtet auf Ersatz des sog. Vertrauensschadens, zugestanden. Vorzugswürdig erscheint jedoch die Auffassung, die den Erklärenden nur bei eigenem oder ihm über § 278 BGB zurechenbarem Verschulden wegen vorvertraglicher Pflichtverletzung verschuldensabhängig aus §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB (culpa in contrahendo) haften lassen will. 19 Dies musste hier aber schon deshalb nicht entschieden werden, weil V die BGHZ-Sammlung noch nicht versandt hatte und ein Vertrauensschaden (insbesondere in Gestalt der Versendungskosten) nicht ersichtlich ist.
- BeckOGK/Fehrenbach, BGB, Stand: 01.02.2019, § 307 Rn. 9; allg. zu freibleibenden Angeboten siehe Lindacher, DB 1992, 1813.
- Ein Telefax geht, sofern dies zur üblichen Tages- bzw. Geschäftszeit geschieht, am Tag des Ausdrucks zu (Hk-BGB/Dörner, 10. Aufl. 2019, § 130 Rn. 4). Ist der Ausdruck deswegen nicht möglich, weil das Empfängerfax keinen hinreichenden Papiervorrat aufweist, und wird die zugefaxte Mitteilung von dem Faxgerät des Empfängers gespeichert, so ist dessen Machtbereich ebenfalls erreicht (Schreiber, Jura 2002, 249, 251). Ist das Faxgerät hingegen defekt, gelten die Grundsätze zur Zugangsverhinderung und Zugangs-verzögerung (siehe dazu Schreiber, Jura 2002, 249, 251 f.).
- BGH, Urt. v. 08.03.2006 – IV ZR 145/05, Rn. 29; Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 611; Klein-Blenkers, Jura 1993, 640, 641
- RG, Urt. v. 08.02.1943 – III 111/42, RGZ 170, 380, 382.
- Jauernig/Mansel, BGB, 17. Aufl. 2018, § 130 Rn. 1.
- Erman/Arnold, BGB, 15. Aufl. 2017, § 130 Rn. 4; MünchKomm-BGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 130 Rn. 14; Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, § 130 Rn. 4; Klein-Blenkers, Jura 1993, 640, 642 f.; Taupitz/Kritter, JuS 1999, 839, 840.
- BGH, Urt. v. 30.05.1975 – V ZR 206/73, BGHZ 65, 13, 14 f.; BGH, Urt. v. 11.05.1979 – V ZR 177/77, NJW 1979, 2032, 2033; BGH, Urt. v. 08.03.2006 – IV ZR 145/05, Rn. 29; Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 611 u. 615; Schreiber, Jura 2002, 249, 250.
- Hier und zum Folgenden: Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 615.
- Erman/Arnold, BGB, 15. Aufl. 2017, § 130 Rn. 4; Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, § 130 Rn. 4; a. A. MünchKomm-BGB/Einsele, 8. Aufl. 2018, § 130 Rn. 14: Haftung aus §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB (culpa in contrahendo). Der Unterschied liegt darin, dass die Haftung aus c.i.c. eine schuldhafte Verletzung vorvertraglicher Pflichten voraussetzt, während eine Haftung aus § 122 I BGB auf dem Veranlasserprinzip beruht und daher verschuldensunabhängig ist (Meyer, JuS 2017, 960, 963).
- Meyer, JuS 2017, 960, 962.
- Zum Folgenden: Meyer, JuS 2017, 960, 962.
- BGH, Urt. v. 30.05.1975 – V ZR 206/73, BGHZ 65, 13, 14; Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, § 172 Rn. 2.
- Dieses Argument kann man aber auch umdrehen: Wenn der Gesetzgeber von diesem allgemeinen Grundsatz ausgegangen wäre, dann hätte er dies in § 172 I BGB nicht festlegen müssen. Man könnte deshalb zur Begründung der Gegenauffassung insoweit auch einen Umkehrschluss (argumentum e contrario, vgl. dazu Bitter/Rauhut, JuS 2009, 289, 296) bemühen.
- Meyer, JuS 2017, 960, 962. Die Kenntnis dieses Willens wird von Studierenden in Klausuren nicht erwartet.
- Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band I, 1888, S. 157.
- Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 611.
- Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 615.
- Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, § 5 Rn. 28.
- BGH, Urt. v. 30.05.1975 – V ZR 206/73, BGHZ 65, 13, 15; Bork, BGB AT, 4. Aufl. 2016, Rn. 615.