Erklärungs- und Inhaltsirrtum, Anfechtbarkeit wegen falscher Übermittlung
Erklärungs- und Inhaltsirrtum, Anfechtbarkeit wegen falscher Übermittlung
Nach § 119 I BGB zur Anfechtung berechtigt ist der Erklärende, wenn er „bei Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war“ (Inhaltsirrtum) oder „eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte“ (Erklärungsirrtum). § 120 BGB stellt die durch einen Dritten unrichtig übermittelte Willenserklärung einem Erklärungsirrtum gleich.
Der Erklärungsirrtum, § 119 I Alt. 2 BGB
Ein Erklärungsirrtum liegt vor, wenn Gewolltes und Erklärtes auseinanderfallen, weil sich der Erklärende eines Erklärungszeichens bedient hat, dessen er sich nicht bedienen wollte (Beispiele: Verschreiben, Versprechen, Vertippen, Verlesen, Vergreifen). In diesen Fällen ist schon der äußere Erklärungstatbestand der Willenserklärung nicht gewollt. Merksatz: „Der Erklärende weiß nicht, was er sagt.“1
Werden Erklärungen automatisch durch ein Computerprogramm abgegeben („Computererklärungen“), kommt ebenfalls eine Anfechtung wegen Erklärungsirrtums in Betracht.2 Der Irrtum des Computers kann zum einen darauf beruhen, dass Daten falsch in das Programm eingespeist wurden, zum anderen darauf, dass das Programm richtig eingegebene Daten verfälscht hat. Wird durch das Computerprogramm ein Angebotspreis errechnet und rechnet das EDV-Programm richtig eingegebene Daten falsch zusammen und gibt anschließend automatisch ein Angebot an den Empfänger ab, liegt jedoch ein Irrtum im Stadium der Willenserklärung und damit kein zur Anfechtung berechtigender Erklärungsirrtum vor.3
Wer ein Blankett4 aus der Hand gibt, das dann von einem Dritten abredewidrig ausgefüllt wird, will eine Erklärung mit diesem Inhalt ebenfalls nicht abgeben; in diesem Fall ist die Anfechtung nach § 119 I Alt. 2 BGB jedoch nach dem Rechtsgedanken des §§ 172 II, 173 BGB ausgeschlossen, weil der Rechtsverkehr auf den vom Ausfüllenden geschaffenen Rechtsschein vertrauen darf.5 Der Erklärende haftet gutgläubigen Dritten gegenüber aus dem von ihm verursachten Rechtsschein auf Erfüllung; dabei ist die Haftung nicht auf den Ersatz des Vertrauensschadens begrenzt.6
Der Inhaltsirrtum, § 119 I Alt. 1 BGB
Beim Inhaltsirrtum irrt der Erklärende über den Sinn seiner Erklärung. Er verwendet zwar das gewollte Erklärungszeichen, verbindet mit diesem aber eine andere Bedeutung als sie ihm nach der normativen Auslegung zukommt.7 Merksatz: „Der Erklärende weiß, was er sagt, er weiß aber nicht, was er damit sagt.“8
Beispiel: Ein Engländer bestellt in Deutschland „Chips“ und ist überrascht, dass er Chips im Sinne deutschen Sprachgebrauchs erhält.9
Ein Inhaltsirrtum ist auch gegeben, wenn sich die Fehlvorstellung auf die Identität des Geschäftspartners bzw. des Geschäftsgegenstandes bezieht (Identitätsirrtum bzw. error in persona vel objecto). Der Wortlaut der Erklärung ist gewollt, aber der Erklärende meint damit eine andere Person bzw. Sache.10
Ein solcher Identitätsirrtum muss vom Eigenschaftsirrtum i.S.v. § 119 II BGB abgegrenzt werden. Der Identitätsirrtum beruht auf einer fehlerhaften Auswahl des Vertragsgegenstandes. Beim Eigenschaftsirrtum hat der Erklärende die Sache richtig identifiziert, schreibt ihr aber irrtümlich eine tatsächlich nicht vorhandene Eigenschaft zu. Die Abgrenzung ist deshalb wichtig, weil sich nur bei § 119 II BGB die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis zum Gewährleistungsrecht stellt.
Ein Irrtum über die Rechtsfolgen einer Erklärung (Rechtsfolgenirrtum) kann als Inhaltsirrtum beachtlich sein, wenn die Erklärung wesentlich andere Rechtsfolgen auslöst als gewollt und die wesentlichen Rechtsfolgen auch unmittelbar zum Gegenstand der Erklärung gemacht werden sollten.11 Hat die Vorstellung vom Eintritt einer bestimmten Rechtsfolge hingegen keinen Eingang in den Inhalt der Erklärung gefunden, weichen Wille und Erklärung nicht voneinander ab; dann liegt ein unbeachtlicher Motivirrtum vor.12
Beispiel: Der Irrtum über das Bestehen eines gesetzlichen Rücktrittsrechts ist unbeachtlich.13
Ein Spezialfall des Rechtsfolgenirrtums ist der Irrtum über die Geschäftsart. Hier will der Erklärende einen anderen Vertragstyp herbeiführen, als er es nach dem objektiven Empfängerhorizont getan hat.14
Beispiel: Wer einem Bekannten sein Auto für einen Wochenendtrip „verleiht“ (die Leihe ist unentgeltlich, § 598 BGB), obwohl er es ihm eigentlich vermieten wollte (die Miete ist entgeltlich, § 535 II BGB), kann den Leihvertrag gemäß § 119 I Alt. 1 BGB anfechten, wenn die Erklärung objektiv als unentgeltliche Gebrauchsüberlassung verstanden werden durfte.
Ein Inhaltsirrtum in Gestalt eines Verlautbarungsirrtums liegt vor, wenn der Erklärende die Bedeutung eines von ihm verwandten Begriffs oder Erklärungszeichens verkennt.15
Beispiel: Bestellung von „25 Gros Rollen Toilettenpapier“ in der irrigen Annahme, es handele sich um 25 große Rollen.16 Objektiv bedeutet „Gros“ aber 12 Dutzend, was zur Bestellung von 3.600 Rollen führen würde.
Umstritten ist Behandlung eines Irrtums, bei dem der Inhalt der Erklärung auf einer unrichtigen Rechenoperation beruht (Kalkulationsirrtum).17 Es kann sich um einen schlichten Rechenfehler handeln. Der Fehler kann aber auch darauf beruhen, dass der Erklärende von einer unzutreffenden Kalkulationsgrundlage ausgegangen ist. In beiden Fällen liegt der Fehler schon im Stadium der Willensbildung. Der Wille kommt fehlerhaft zustande, wird sodann aber korrekt geäußert, sodass sich im Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung Wille und Erklärung decken. Deshalb berechtigt ein Kalkulationsirrtum nach h. M. niemals zur Anfechtung.18 Der Kalkulationsirrtum ist ein unbeachtlicher Motivirrtum.
Teilt der Erklärende nur das Ergebnis der Berechnung mit, ohne den vorangehenden Rechenvorgang offenzulegen (verdeckter Kalkulationsirrtum), scheidet eine Anfechtung dann aus, wenn der Erklärungsempfänger auf die Richtigkeit der Erklärung vertraut hat. Kannte der Empfänger den Kalkulationsirrtum oder hat er sich dieser Kenntnis bewusst verschlossen, wird teilweise unter Hinweis auf die fehlende Schutzbedürftigkeit des Empfängers eine Anfechtbarkeit analog § 119 I Alt. 1 BGB bejaht.19 Die h. M. geht demgegenüber auch bei Kenntnis und schuldhafter Unkenntnis des Empfängers von einem unbeachtlichen Motivirrtum aus.20 Dies ist zutreffend, weil sonst die Kenntnis bzw. schuldhafte Unkenntnis zur Anfechtungsvoraussetzung würde, obgleich dies nach der Konzeption Gesetzes erst auf der Rechtsfolgenebene (vgl. § 122 II BGB) Bedeutung erlangt.21 Es kann aber nach h. M. treuwidrig sein, ein Angebot trotz Kenntnis vom Irrtum anzunehmen und anschließend Erfüllung zu verlangen; dann kommt ein aus § 242 BGB resultierendes Leistungsverweigerungsrecht in Betracht.22 Zudem kann der den Irrtum erkennende Empfänger gemäß § 241 II BGB zur Aufklärung des Irrenden verpflichtet sein und sich diesem gegenüber bei Verletzung dieser Rücksichtnahmepflicht gemäß §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB schadensersatzpflichtig machen.23
Wird die Kalkulation offengelegt und zusammen mit dem Ergebnis der Berechnung zum Erklärungsinhalt gemacht (externer bzw. offener Kalkulationsirrtum), scheidet eine Anfechtung ebenfalls aus.24 Es liegen dann objektiv zwei einander widersprechende Erklärungsteile vor, die – jeder für sich – von einem Erklärungswillen gedeckt sind.25 Für § 119 I BGB ist jedoch charakteristisch, dass Wille und Erklärung auseinanderfallen. Deshalb ist vielmehr durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln, ob einer der beiden sich widersprechenden Erklärungsteile als untergeordnet zurücktreten soll; dann gilt der übergeordnete (primär gewollte) Erklärungsteil (Beispiel: Korrekte Einzelrechnungsposten, auf die es dem Erklärenden erkennbar ankommt, werden lediglich falsch addiert, ohne dass die Parteien zuvor über eine bestimmte Rechnungssumme – etwa als „Fixpreis“ – gesprochen haben). Lässt sich nicht durch Auslegung ermitteln, ob es entscheidend auf die Rechenfaktoren oder den Endpreis ankam, kann die Erklärung wegen Perplexität26 nichtig sein27 (Beispiel: Verkaufsangebot über „drei Geigen zum Preis von jeweils 550,00 €, also insgesamt 1.950,00 €“); einer auf rückwirkende Beseitigung der Willenserklärung gerichteten Anfechtung (vgl. § 142 I BGB) bedarf es dann nicht, weil die Erklärung von vornherein nichtig ist.
Liegt ein gemeinsamer Kalkulationsirrtum beider Parteien vor, kommt eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB in Betracht. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die richtige Berechnung des Preises regelmäßig in die alleinige Risikosphäre des Anbietenden fällt, was einer Anwendung des § 313 BGB entgegensteht.28
Übermittlungsirrtums, § 120 BGB
Eine Willenserklärung, welche durch die zur Übermittlung verwendete Person oder Einrichtung unrichtig übermittelt worden ist, kann unter den gleichen Voraussetzungen angefochten werden wie nach § 119 BGB eine irrtümlich abgegebene Willenserklärung. Beim Übermittlungsirrtum handelt sich um einen Sonderfall des Erklärungsirrtums.29 Der äußere Tatbestand der Erklärung entspricht nicht dem Geschäftswillen des Erklärenden. Allerdings unterläuft der Erklärungsirrtum nicht schon dem Erklärenden selbst, sondern erst der zur Übermittlung eingesetzten Person bzw. Einrichtung.
Es muss sich um die Übermittlung einer fremden Willenserklärung handeln. Eine übermittelnde Person muss Erklärungsbote sein. Für den Irrtum eines Stellvertreters, der eine eigene Willenserklärung im fremden Namen abgibt (vgl. § 164 I 1 BGB), gilt nicht § 120 BGB, sondern § 166 BGB.
Die Erklärung muss unrichtig übermittelt worden sein. Dies kann daran liegen, dass der Übermittelnde sie falsch verstanden hat, sie bei der Weitergabe verfälscht oder sie an den falschen Empfänger übermittelt.
Umstritten ist, ob es sich um eine unbewusste Falschübermittlung handeln muss. Teilweise wird die Auffassung vertreten, in den Fällen der bewussten Falschübermittlung müsse sich der Erklärende die Willenserklärung nicht zurechnen lassen; das Vertrauen des Erklärungsempfängers sei durch eine analoge Anwendung der §§ 177 ff. BGB, insbesondere durch eine Schadensersatzpflicht des „Pseudoboten“ analog § 179 I BGB zu schützen.30 Nach dieser Auffassung ist die unbewusste Falschübermittlung als ungeschriebenes Merkmal in den Tatbestand des § 120 BGB hineinzulesen. Die Gegenauffassung stellt darauf ab, dass die bewusste Falschübermittlung in den Risikobereich des Erklärenden falle, weshalb ihm die Erklärung – bis zu einer Anfechtung nach § 120 BGB – zuzurechnen sei.31 Unstreitig kommt es auf eine Anfechtung nach § 120 BGB nicht an, wenn der Erklärende den Dritten („Pseudoboten“) überhaupt nicht zur Übermittlung der Erklärung eingeschaltet hat; in diesen Fällen des „Boten ohne Botenmacht“ ist eine Anfechtung nicht erforderlich, weil jegliche Zurechnungsgrundlage fehlt.32
- Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 75.
- Zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 76.
- BGH, Urt. v. 26.01.2005 – VIII ZR 79/04, NJW 2005, 976, 977.
- Ein Blankett ist eine Urkunde, die schon die Unterschrift des Ausstellers enthält, die aber absichtlich noch nicht vollständig ausgefüllt ist (Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 89).
- Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 119 Rn. 6.
- BGH, Urt. v. 20.11.1990 – XI ZR 107/89, NJW 1991, 487, 488; BGH, Urt. v. 29.02.1996 – IX ZR 153/95, NJW 1996, 1467, 1469 (zur Haftung des „Blankobürgen“).
- BGH, Urt. v. 15.02.2017 – VIII ZR 59/16, Rn. 25.
- Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 75.
- Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 78.
- Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 79 f.
- Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 81.
- BGH, Urt. v. 29.06.2016 – IV ZR 387/15; Rn. 11.
- BGH, Urt. v. 10.07.2002 – VIII ZR 199/01, NJW 2002, 3100, 3103.
- Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 84.
- Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 119 Rn. 9.
- LG Hanau, Urt. v. 30.06.1978 – 1 O 175/78, NJW 1979, 721.
- Zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 91 f.
- BGH, Urt. v. 28.02. 2002 – I ZR 318/99, NJW 2002, 2312, 2312 f.
- Singer, JZ 1999, 342, 347.
- BGH, Urt. v. 07.07.1998 – X ZR 17/97, NJW 1998, 3192, 3193.
- Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 95.
- BGH, Urt. v. 11.11.2014 – X ZR 32/14, Rn. 6.
- BGH, Urt. v. 11.11.2014 – X ZR 32/14, Rn. 8 ff.
- BGH, Urt. v. 11.05.2001 – V ZR 492/99, NJW 2001, 2464, 2465.
- Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 119 Rn. 14.
- Von Perplexität spricht man, wenn eine Äußerung mehrere Bestimmungen enthält, die sich in den Rechtsfolgen widersprechen und deren Vorrang sich nicht durch Auslegung ermitteln lässt.
- Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 100.
- BGH, Urt. v. 30.06.2011 – VII ZR 13/10, Rn. 23.
- BGH, Urt. v. 26.01.2005 – VIII ZR 79/04, II.A.2.a); zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 122 – 128.
- Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 126; Jacoby/v. Hinden, BGB, 18. Aufl. 2022, § 120 Rn. 2.
- Neuner, BGB AT, 13. Aufl. 2023, § 41 Rn. 40.
- BGH, Urt. v. 21.05.2008 – IV ZR 238/06, Rn. 35 f.