Entstehung vorvertraglicher Schuldverhältnisse

Entstehung vorvertraglicher Schuldverhältnisse

Nach § 311 II BGB kann ein Schuldverhältnis mit Schutzpflichten gemäß § 241 II BGB auch schon in einem vorvertraglichen Stadium entstehen.1

Der Verweis in § 311 II BGB auf § 241 II BGB zeigt, dass es sich um ein Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten handelt, in dem lediglich Schutzpflichten bestehen.

Die Regelungen der § 311 II, III BGB wurden im Rahmen der Schuldrechtsreform mit Wirkung zum 01.01.2002 in das BGB aufgenommen.2 Dadurch wurde lediglich eine positive Regelung für ein Rechtsinstitut geschaffen, das als „culpa in contrahendo (c.i.c.)“ bezeichnet wird und bereits zuvor gewohnheitsrechtlich anerkannt war.

Das vorvertragliche Schuldverhältnis entsteht ohne Vertrag und ist deshalb ein gesetzliches. Es entfaltet aber zum Teil die gleichen Wirkungen wie ein rechtsgeschäftliches Schuldverhältnis und ist durch den Gesetzgeber aus diesem Grund im Abschnitt III über „Schuldverhältnisse aus Verträgen“ verortet worden. Die Überschrift des § 311 BGB spricht insoweit von einem „rechtsgeschäftsähnlichen Schuldverhältnis“.

Die Bedeutung vorvertraglicher Schuldverhältnisse besteht im Wesentlichen darin, in Fällen, in denen allein die Anwendung der §§ 823 ff. BGB nicht zu sachgerechten Ergebnissen führt, Grundlage für einen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht gemäß §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB zu sein.3 Dieser „quasivertragliche“ Schadensersatzanspruch bietet seinem Inhaber gegenüber deliktischen Schadensersatzansprüchen den Vorteil, dass es keiner Verletzung eines absoluten Rechts bzw. Schutzgesetzes bedarf (§ 823 I, II BGB) und dass dem Schuldner (anders als bei § 831 BGB, der keine Zurechnungsnorm, sondern eine Anspruchsgrundlage für eigenes Auswahl- bzw. Überwachungsverschulden ist) über § 278 BGB das Verschulden Dritter zugerechnet werden kann und dass sein Verschulden nach § 280 I 2 BGB vermutet wird, während dieses im Rahmen der §§ 823 ff. BGB durch den Geschädigten nachzuweisen ist.4

Voraussetzungen für die Entstehung eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses

§ 311 II BGB regelt, unter welchen Voraussetzungen ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit gegenseitigen Schutzpflichten entsteht.5 Ein dafür ausreichender geschäftlicher Kontakt besteht nur in drei Fällen:

Nach § 311 II Nr. 1 BGB entsteht ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit Schutzpflichten nach § 241 BGB durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen. Dafür genügen bereits einseitige Maßnahmen eines Vertragsteils, die den anderen zu einem Vertragsschluss veranlassen sollen.6

Das Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen endet, wenn die Verhandlungen endgültig abgebrochen werden oder wenn es in Folge der Verhandlungen zum Vertragsschluss kommt. Im zweiten Fall besteht dann aber ein vertragliches Schuldverhältnis, in dem das vorvertragliche Schuldverhältnis aufgeht; Schadensersatzansprüche aus c.i.c. bleiben dann aber bestehen.7

Auch ohne den Eintritt in Vertragsverhandlungen kann nach § 311 II Nr. 2 BGB bereits die Anbahnung eines Vertrages das vorvertragliche Schuldverhältnis begründen.8

Dafür reicht indes nicht jeder „soziale Kontakt“, der die Möglichkeit zur Einwirkung auf Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen eröffnet. Vielmehr muss der eine Partner dem anderen Teil gerade im Hinblick auf eine etwaige rechtsgeschäftliche Beziehung dem anderen Teil die Einwirkungsmöglichkeiten gewährt oder ihm seine Rechte, Rechtsgüter und Interessen anvertraut haben. Entscheidend ist, dass die Eröffnung der Einwirkungsmöglichkeiten und deren Gebrauch durch die andere Seite im Zusammenhang mit einem eventuellen Vertragsschluss stehen. Beispiel: Das Betreten von Verkaufsräumen zu Informationszwecken ohne bereits gefassten Kaufentschluss reicht aus, nicht hingegen das Betreten zu geschäftsfremden Zwecken (etwa dem Aufwärmen im Winter oder dem Diebstahl von Waren).

Nach § 311 II Nr. 3 BGB reichen zur Begründung eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses mit Schutzpflichten nach § 241 II BGB schließlich ähnliche geschäftliche Kontakte aus. Es handelt sich um einen Auffangtatbestand für Konstellationen, die nicht schon von der Nummer 1 (Spezialtatbestand) oder der Nummer 2 (Grundtatbestand) erfasst werden, bei denen aber gleichwohl eine erhöhte Einwirkungsmöglichkeit auf die Rechtsgüter, Rechte und Interessen des anderen Teils eröffnet wird. In zeitlicher Hinsicht muss dies – in Abgrenzung zu den Fällen der Nummer 2 – noch im Vorfeld der Vertragsanbahnung geschehen, sodass ein zeitlich noch weiter vorgelagertes Stadium betroffen ist.

Beispiel: Einholen erster Auskünfte über einen möglichen Vertragsgegenstand.9

Beteiligte des vorvertraglichen Schuldverhältnisses

In den Fällen des § 311 II BGB sind die Parteien des vorvertraglichen Schuldverhältnisses grundsätzlich die Partner des möglicherweise zustande kommenden Vertrags.10 Unter den Voraussetzungen des § 311 III BGB kann ein vertragsähnliches Schuldverhältnis allerdings auch zwischen einem dieser potentiellen Vertragspartner und einem Dritten entstehen.

§ 311 III BGB betrifft vorrangig Fälle, in denen der Dritte verpflichtet ist. Dritte können entsprechend den Grundsätzen über den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte aber auch berechtigt sein (Beispiel: Familienangehörige, die den Kaufinteressenten beim Warenhausbesuch begleiten; vgl. hierzu den Fall: „Das Salatblatt“). Vom Wortlaut des § 311 III BGB ist auch diese Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses mit umfasst.11

Nach § 311 III 2 BGB entsteht ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 II BGB zu Personen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen, insbesondere, wenn der Dritte in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst.

Beispiel: Der Gebrauchtwagenhändler, der beim Verkauf eines Pkw nur als Vermittler oder als Vertreter des Eigentümers auftritt, haftet dem Käufer – unter den weiteren Voraussetzungen der §§ 280 I, 241 II BGB – auf Schadensersatz, wenn dieser wegen der besonderen Fachkenntnis des Händlers auf dessen Angaben und Beratung vertraut.12

§ 311 II 2 BGB betrifft auch die Fälle der sog. Sachwalterhaftung.13 Dabei geht es um die Haftung von Sachverständigen und anderen Auskunftspersonen, die (ohne Eigeninteresse am Vertragsschluss) durch ihre fachkundige Äußerung entscheidend zum Vertragsschluss beitragen, weil sich ein Verhandlungspartner auf ihre Sachkunde, Objektivität und Neutralität verlässt.14

Weiterhin vom Anwendungsbereich des § 311 III 2 BGB („insbesondere“) umfasst sind Fälle, in denen der Dritter zwar kein besonderes Vertrauen in Anspruch nimmt, jedoch ein erhebliches Eigeninteresse am Vertragsschluss hat.15 Dieses Eigeninteresse muss aber über ein bloßes Provisionsinteresse hinausgehen; der Dritte muss vielmehr „gleichsam in eigener Sache“ tätig werden (qualifiziertes Eigeninteresse).16

Rechtsfolgen des vorvertraglichen Schuldverhältnisses

Der Geschädigte hat einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 280 I, 311 II (bzw. III), 241 II BGB.17

Der Umfang bemisst sich nach §§ 249 ff. BGB. Der Geschädigte ist so zu stellen, wie er ohne das schädigende Verhalten stünde. Der Anspruch geht i.d.R. auf Ersatz des Vertrauensschadens und ist der Höhe nach auf das Erfüllungsinteresse begrenzt. Sofern der Schaden im Zustandekommen eines nachteiligen Vertrages besteht, kann der Geschädigte dessen Aufhebung verlangen.


  1. Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 5 Rn. 1 – 3.
  2. BT-Drucks. 14/6040, S. 162 f.
  3. Zu den Fallgruppen der c.i.c. siehe Lorenz, JuS 2015, 398, 399 ff. und den Fall: „Das Salatblatt“.
  4. Hk-BGB/Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 311 Rn. 14.
  5. Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 5 Rn. 4 – 7.
  6. Hk-BGB/Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 311 Rn. 15.
  7. Hk-BGB/Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 311 Rn. 18.
  8. >Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 311 Rn. 16. Siehe auch den Fall: „Das Salatblatt“.
  9. Hk-BGB/Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 311 Rn. 17.
  10. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 311 Rn. 18.
  11. Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 5 Rn. 13 („c.i.c. mit Schutzwirkung für Dritte“).
  12. Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 5 Rn. 10.
  13. Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 5 Rn. 11.
  14. BT-Drucks. 14/6040, S. 163; BGH, Urt. v. 12.01.2011 – VIII ZR 346/09, Rn. 13.
  15. Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 5 Rn. 12.
  16. BGH, Urt. v. 13.06.2002 – VII ZR 30/01, DB 2002, 1878, 1879; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 542: „procurator quasi in rem suam“.
  17. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 311 Rn. 26.