Entschuldigender Notstand
Entschuldigender Notstand (§ 35 StGB)
§ 35 StGB enthält einen Entschuldigungsgrund. Dieser kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine Rechtfertigung nach § 34 StGB an der Verhältnismäßigkeit oder der Angemessenheit scheitert.1
In den Fällen des § 35 StGB bleibt das Verhalten des Täters rechtswidrig.2 Gegen die lediglich entschuldigte Notstandstat darf Notwehr (§ 32 StGB; verübt werden. Zudem ist eine Teilnahme möglich, da eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat vorliegt (§§ 26, 27 StGB).
Prüfungsaufbau
Die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands sind in folgender Reihenfolge zu prüfen:3
Prüfungsschema: Entschuldigender Notstand (§ 35 StGB)
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Notstandslage
a) Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit
b) Für den Täter, einen Angehörigen oder eine ihm nahestehende Person
c) Gegenwärtigkeit der Gefahr
a) Begehung einer rechtswidrigen Tat
b) Erforderlichkeit („nicht anders abwendbar“)
Keine Zumutbarkeit der Hinnahme (§ 35 I 2 StGB)
Rettungsabsicht
Notstandslage
Es muss eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit des Täters, eines Angehörigen oder einer dem Täter sonst nahestehenden Person vorliegen.
Die Aufzählung der notstandsfähigen Rechtsgüter ist abschließend.4 Der Begriff „Leib“ bezieht sich auf die körperliche Unversehrtheit im Sinne der §§ 223 ff. StGB; um ein Gleichgewicht zwischen den geschützten Rechtsgütern herzustellen, muss eine erhebliche Leibesgefahr bestehen.5 Mit der „Freiheit“ ist nur die durch § 239 StGB geschützte körperliche Fortbewegungsfreiheit und nicht die allgemeine Handlungs- und Entscheidungsfreiheit gemeint.6
§ 35 I 1 StGB schränkt den Schutzbereich bzgl. dritter Personen auf Angehörige (vgl. die Legaldefinition in § 11 I Nr. 1 StGB) und andere dem Täter nahestehende Personen ein. Darunter versteht man Personen, die dem Täter in ähnlicher Weise wie Angehörige in einer auf gewisse Dauer angelegten Beziehung persönlich verbunden sind (z. B. eheähnliche Lebensgemeinschaft, Liebesverhältnisse, enge Freundschaften).7
Für die Rechtsgüter muss eine gegenwärtige Gefahr bestehen. Gefahr im Sinne von § 35 I 1 StGB ist ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht.8 Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Sachlage der Eintritt einer Schädigung sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, wenn nicht rechtzeitig Abwehrmaßnahmen ergriffen werden.9 Die Gefahr muss von einer gewissen Erheblichkeit sein; geringfügige Körperschäden oder unbedeutende Freiheitsbeschränkungen genügen nicht.10
Notstandshandlung
Die Gefahr, die der Täter durch die Begehung einer rechtswidrigen Tat abwenden will, darf „nicht anders abwendbar“ sein. Gemeint ist damit die Erforderlichkeit der Notstandshandlung mit den Kriterien der Eignung und des mildesten möglichen Mittels.11
Die Notstandshandlung muss als ultima ratio den einzigen und letzten Ausweg aus der Notlage bilden.12
Hinnehmenmüssen der Gefahr, § 35 I 2 StGB
Eine Entschuldigung nach § 35 I 1 StGB entfällt, „soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen“ (§ 35 I 2 Hs. 1 StGB).
Selbst verursacht ist die Gefahr durch den Täter nicht bereits dann, wenn er im Sinne der Äquivalenztheorie einen kausalen Beitrag zu ihrer Entstehung erbracht hat.13 Von einer selbst verursachten Gefahr ist nur dann auszugehen, wenn sich der Täter nach dem allgemeinen Gedanken der objektiven Zurechnung objektiv pflichtwidrig verhalten und dadurch objektiv voraussehbar die Notstandslage verursacht hat.14 Ein schuldhaftes Verhalten des Täters ist jedoch nicht erforderlich.15
Mit einem besonderen Rechtsverhältnis sind Fälle gemeint, in denen dem Täter berufliche oder berufsähnliche Schutzpflichten gegenüber der Allgemeinheit obliegen und er deshalb berufsspezifische Gefahren hinzunehmen hat. Beispiele: Ein Arzt muss Ansteckungsgefahren auf sich nehmen, ein Feuerwehrmann einsatzbedingte Gesundheitsrisiken durch Rauchvergiftungen.16
Aus dem Wort „namentlich“ folgt, dass es sich bei den beiden vorstehenden Fällen um Regelbeispiele handelt und § 35 I 2 StGB eine allgemeine Zumutbarkeitsklausel enthält.17 Von dieser sind vor allem Fälle erfasst, in denen Beschützergaranten aus einem privaten Rechtsverhältnis besondere Obhutspflichten obliegen (z. B. Eltern-Kind-Verhältnis), und Fälle, in denen der dem Notstandsopfer zugefügte Schaden im Sinne eines deutlichen Missverhältnisses außer jedem Verhältnis zum drohenden Schaden stehen.18
Ist eine Entschuldigung nach § 35 I 2 StGB ausgeschlossen, kann die Strafe gemäß § 35 I 2 Hs. 2 StGB nach § 49 I StGB gemildert werden.
Rettungsabsicht
Der Täter muss mit Rettungsabsicht agieren. Ein Handeln in bloßer Kenntnis der Gefahr genügt nicht.19
Fehlt dieses subjektive Entschuldigungselement, wird der Täter wegen vollendeter Tat bestraft.
Irrtum über die Notstandslage, § 35 II StGB
Die irrige Annahme einer nach § 35 I StGB entschuldigten Notstandslage führt bei Unvermeidbarkeit zur Straflosigkeit (§ 35 II StGB). § 35 II StGB regelt also den Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands.20
Beispiel: Die von ihrem Ehemann über viele Jahre misshandelte und gequälte Ehefrau tötet in ihrer subjektiven Ausweglosigkeit ihren Ehemann.21
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 2.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 1.
- Vgl. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 2 und Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 4 (Kombination).
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 4; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 6.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 5.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 4; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 5.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 7.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 5.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 6.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 6.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 9.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 8.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 35 Rn. 14; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 5.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 19; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 661.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 19; a. A. Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 35 Rn. 20.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 23.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 17.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 28 – 32.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 11.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 26 Rn. 39.
- BGH, Urt. v. 25.03.2003 – 1 StR 483/02, BGHSt 48, 255.