Duldungs- und Anscheinsvollmacht

Duldungs- und Anscheinsvollmacht

Die Rechtsprechung hat in Anlehnung an die §§ 170 – 173 BGB und § 56 HGB zwei Tatbestände einer Rechtsscheinsvollmacht entwickelt:1 Die Duldungs-2 und die Anscheinsvollmacht. Diese können auch dann eingreifen, wenn eine tatsächliche Bevollmächtigung nichtig ist.3

Duldungsvollmacht

Eine Duldungsvollmacht liegt vor, wenn der Vertretene es willentlich geschehen lässt, dass ein anderer für ihn wie ein Vertreter auftritt, und der Geschäftspartner dieses Dulden nach Treu und Glauben dahin versteht und auch verstehen darf, dass der als Vertreter Handelnde zu den vorgenommenen Erklärungen bevollmächtigt ist.4 Der Vertretene kann sich unter folgenden Voraussetzungen nicht auf die fehlende Vollmacht berufen:

Es muss der Rechtsschein einer Bevollmächtigung vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn der Vertretene es – i.d.R. über einen längeren Zeitraum – wissentlich geschehen lässt, dass ein anderer für ihn ohne eine Bevollmächtigung als Vertreter auftritt und der Vertragspartner dieses bewusste Dulden dahin nach Treu und Glauben verstehen darf, dass der als Vertreter Handelnde bevollmächtigt ist.5 Es müssen objektive Umstände vorliegen, die das Dulden des Vertretenen für den Dritten erkennbar machen.

Der Rechtsschein muss dem Vertretenen zurechenbar sein. Das ist der Fall, wenn er das den Rechtsschein begründende Verhalten des Vertreters kennt und es nicht verhindert, obwohl ihm das möglich gewesen wäre.

Die Zurechnung setzt voraus, dass der Vertretene geschäftsfähig ist. Nur ein Geschäftsfähiger kann für den durch ihn erzeugten Rechtsschein verantwortlich gemacht werden.

Der Dritte muss wegen des Rechtsscheinstatbestandes an eine Vollmacht geglaubt und in Folge dessen eine rechtsgeschäftliche Disposition getroffen haben (Kausalität).

Der Dritte muss gutgläubig sein. Das ist der Fall, wenn er die fehlende Vertretungsbefugnis nicht gekannt hat und ihm die auch nicht auf Grund von Fahrlässigkeit unbekannt geblieben ist (§ 173 BGB analog). Nur der gutgläubige Geschäftspartner ist schutzwürdig.

Liegen die vorgenannten Voraussetzungen vor, kann sich der Vertretene nicht auf die fehlende Vollmacht berufen. Der Vertretene schuldet die Erfüllung des Vertretergeschäfts.

Anscheinsvollmacht

Eine Anscheinsvollmacht liegt vor, wenn der Vertretene das Handeln des Scheinvertreters, anders als bei der Duldungsvollmacht, zwar nicht kennt, jedoch es bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen und verhindern können und der andere darauf vertraut hat und vertrauen durfte, der Vertretene dulde und billige das Handeln des Vertreters.6 Der Vertretene kann sich unter folgenden Voraussetzungen nicht auf die fehlende Vollmacht berufen:

Es muss der Rechtsschein einer Bevollmächtigung vorliegen. Es müssen objektive Umstände vorliegen, die den Schluss auf eine Bevollmächtigung zulassen. Dafür ist im Grundsatz erforderlich, dass das Verhalten des Geschäftsherrn, aus dem der Geschäftsgegner auf die Bevollmächtigung des Dritten schließt, von einer gewissen Dauer und Häufigkeit ist.7

Der Rechtsschein muss dem Vertretenen zurechenbar sein. In diesem Punkt erfordert die Anscheinsvollmacht weniger als die Duldungsvollmacht.8 Der Vertretene haftet bereits dann für den Rechtsschein, wenn er die Entstehung des Rechtsscheins bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt (§ 276 II BGB) hätte erkennen und verhindern können.9

Auch der Rechtsschein einer Anscheinsvollmacht kann nur von einem Geschäftsfähigen zurechenbar gesetzt werden.10

Der Dritte muss wegen des Rechtsscheinstatbestandes an eine Vollmacht geglaubt und in Folge dessen eine rechtsgeschäftliche Disposition getroffen haben (Kausalität).

Der Dritte muss gutgläubig sein. Das ist der Fall, wenn er die fehlende Vertretungsbefugnis nicht gekannt hat und ihm die auch nicht auf Grund von Fahrlässigkeit unbekannt geblieben ist (§ 173 BGB analog).

Liegen die vorgenannten Voraussetzungen vor, kann sich der Vertretene nicht auf die fehlende Vollmacht berufen. Die Nichtbeachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt führt mithin zu einer rechtsgeschäftlichen Bindung des Vertretenen.11

Haftung des Vertreters gemäß § 179 I BGB?

Nach h. M. führen Duldungs- und Anscheinsvollmacht zu einer rechtsgeschäftlichen Bindung des Vertretenen. Es stellt sich aber die Frage, ob sich der Dritte alternativ auch auf die tatsächlich fehlende Vertretungsmacht berufen und den Vertreter als falsus procurator aus § 179 I BGB in Anspruch nehmen kann.

Teilweise wird dem Dritten ein solches Wahlrecht zugestanden; ein Verzicht auf den Vertrauensschutz sei möglich.12 Die h. M. lehnt dies ab.13 Rechtsscheinsvollmachten sollen den Dritten stets so stellen, wie er stehen würde, wenn eine Vollmacht bestanden hätte. Der Vertretene schulde dementsprechend die Erfüllung des Vertretergeschäfts. Eine Haftung des Vertreters gemäß § 179 I BGB (analog) scheide daneben aus.

Stellungnahme: Für die erstgenannte Auffassung spricht ein Vergleich mit dem Handelsrecht und damit das Argument der Einheit der Rechtsordnung. Ein derartiges Wahlrecht ist bei den Rechtsscheinstatbeständen des Handelsrechts, insbesondere bei § 15 HGB, allgemein anerkannt ist.14 Der Vertreter ist in den Fällen der Duldungs- und Anscheinsvollmacht auch nicht schutzwürdig, weil er sich die Vertreterstellung angemaßt hat und es ihm deshalb auch zumutbar ist, bei entsprechender Wahl des Dritten aus § 179 I BGB in Anspruch genommen zu werden. Deshalb sprechen die besseren Gründe für die erstgenannte Auffassung. In einer Klausur sollte man dennoch der h. M. folgen und Duldungs- und Anscheinsvollmachten im Ergebnis wie eine tatsächlich erteilte Vollmacht behandeln. Dann scheidet eine Haftung des Vertreters nach 179 BGB aus, weil dann ein Fall der Vertretung mit Vertretungsmacht vorliegt.


  1. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 154 – 168.
  2. Auch die Duldungsvollmacht beruht nach h. M. auf einem nichtrechtsgeschäftlichen Rechtsscheinstatbestand (BGH, Urt. v. 25.03.2003 – XI ZR 227/02 NJW 2003, 2091, 2092).
  3. BGH, Urt. v. 25.03.2003 – XI ZR 227/02 NJW 2003, 2091, 2092; BGH, Urt. v. 20.04.2004 – XI ZR 164/03, NJW 2004, 2745, 2746. Siehe hierzu den Fall: „Der falsus procurator“.
  4. BGH, Urt. v. 20.04.2018 – V ZR 202/16, Rn. 34; BGH, Urt. v. 22.07.2014 – VIII ZR 313/13, Rn. 26.
  5. BGH, Urt. v. 22.07.2014 – VIII ZR 313/13, Rn. 26; BGH, Urt. v. 11.05.2011 – VIII ZR 289/09, Rn. 15.
  6. BGH, Urt. v. 26.01.2016 – XI ZR 91/14, Rn. 61; BGH, Urt. v. 16.03.2006 – III ZR 152/05, Rn. 17.
  7. BGH, Urt. v. 26.01.2016 – XI ZR 91/14, Rn. 61; BGH, Urt. v. 11.05.2011 – VIII ZR 289/09, Rn. 16.
  8. Beachte: Nur der Zurechnungsgrund ist bei der Anscheinsvollmacht ein anderer als bei der Duldungsvollmacht (BGH, Urt. v. 10.01.2007 – VIII ZR 380/04, NJW 2007, 987, 989).
  9. BGH, Urt. v. 26.01.2016 – XI ZR 91/14, Rn. 61.
  10. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 173 Rn. 9.
  11. BGH, Urt. v. 11.05.2011 – VIII ZR 289/09, Rn. 16.
  12. Schack, BGB AT, 17. Aufl. 2023, Rn. 515.
  13. BGH, Urt. v. 20.01.1983 – VII ZR 32/82, BGHZ 86, 273, 275 ff.
  14. Statt vieler: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 153a, 168.