Dissens (§§ 154, 155 BGB)

Dissens (§§ 154, 155 BGB)

Ein Vertragsschluss setzt zwei übereinstimmende Willenserklärungen der Parteien und damit einen Konsens voraus. Decken sich die Erklärungen der Vertragsparteien hingegen nicht (vollständig), kommt ein Vertrag grundsätzlich nicht zustande. Man spricht dann von einem „Dissens“. Das BGB enthält hierzu Regelungen in den §§ 154, 155. Während § 154 I BGB den Fall betrifft, dass die unvollständige Einigung zumindest einer Partei bewusst ist („offener Dissens“), befasst sich § 155 BGB mit der Situation, dass beide Parteien irrig von deckungsgleichen Erklärungen ausgehen („versteckter Dissens“). Ergänzend bestimmt § 154 II BGB, dass ein Vertrag trotz Willensübereinstimmung nicht wirksam ist, bis eine zuvor vereinbarte Beurkundung vorgenommen wurde.

Offener Dissens, § 154 BGB

Solange sich die Parteien nicht über alle Punkte eines Vertrages geeinigt haben, über die nach der Erklärung auch nur einer Partei eine Vereinbarung getroffen werden soll, ist der Vertrag im Zweifel nicht geschlossen (§ 154 I 1 BGB).

Die Regelung setzt stillschweigend voraus, dass ein Vertrag nicht geschlossen ist, so lange die Parteien über die wesentlichen Vertragsbestandteile (essentialia negotii) keine Einigung erzielt haben. Sie regelt darauf aufbauend nur die Situation der fehlenden Willensübereinstimmung in Bezug auf vertragliche Nebenpunkte (accidentialia negotii). Wollte über einen Nebenpunkt auch nur eine Vertragspartei eine Vereinbarung treffen und ist es insoweit nicht zu einer Willensübereinstimmung gekommen, gilt der Vertrag nach § 154 I 1 BGB „im Zweifel“ als nicht geschlossen. Es handelt sich bei § 154 I 1 BGB also um eine Auslegungsregel.

Ob die Parteien trotz Dissenses in einem Nebenpunkt ihren Vertrag (zumindest konkludent) als verbindlich ansehen wollten, ist wiederum durch Auslegung zu ermitteln.1 Die Auslegungsregel des § 154 I 1 BGB gilt nur „im Zweifel“ und ist nicht anzuwenden, wenn sich die Parteien erkennbar vertraglich binden wollten, obwohl noch einigungsbedürftige Punkte offen waren. Ein solcher Bindungswille kann sich konkludent aus den Umständen ergeben.2 Ein entsprechender Wille ist vor allem dann anzunehmen, wenn die Parteien mit der Ausführung des Vertrages beginnen.3

Haben sich die Parteien nicht über alle Nebenpunkte geeinigt, die nach der Erklärung auch nur einer Partei geregelt werden sollten, ist der Vertrag nicht etwa nichtig, sondern bereits gar nicht geschlossen.4 Dies gilt nach § 154 I 2 BGB sogar dann, wenn sich die Parteien über verschiedene Punkte bereits verständigt und ihre Einigung insoweit bereits schriftlich fixiert haben.

§ 154 II BGB enthält ebenfalls eine Auslegungsregel und ordnet an, dass dann, wenn die Parteien vor oder bei Vertragsschluss eine Beurkundung ihres Rechtsgeschäfts (vereinbarte Schriftform, § 126 S. 1 BGB, oder notarielle Beurkundung, § 128 BGB) vereinbart haben, der Vertrag vor Erfüllung der vereinbarten Förmlichkeit „im Zweifel“ noch nicht geschlossen ist.

Versteckter Dissens, § 155 BGB

Haben sich die Parteien bei einem Vertrag, den sie als geschlossen ansehen, über einen Punkt, über den eine Vereinbarung getroffen werden sollte, in Wirklichkeit nicht geeinigt, so gilt das Vereinbarte, sofern anzunehmen ist, dass der Vertrag auch ohne eine Bestimmung über diesen Punkt geschlossen sein würde (§ 155 BGB).

In diesem Fall, in dem die Vertragsparteien irrtümlich annehmen, sie hätten sich über alle Punkte geeinigt, obwohl in Wirklichkeit zumindest ein Punkt ungeregelt geblieben ist, spricht man von einem versteckten Einigungsmangel (so die amtliche Überschrift des § 155 BGB) bzw. von einem versteckten Dissens.5
Aus dem gleichen Grund wie bei § 154 BGB (s.o.) muss es sich bei dem in § 155 BGB angesprochenen „Punkt, über den eine Vereinbarung getroffen werden sollte“, um einen Nebenpunkt („accidentale negotii“) handeln. Mangelt es an einer Einigung im Hinblick auf einen Hauptpunkt („essentiala negotii“), kommt ein Vertrag von vornherein nicht zustande, ohne dass es auf die §§ 154, 155 BGB ankäme. An einer Einigung der Parteien fehlt es, wenn der durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) ermittelte objektive Inhalt ihrer Erklärungen in dem betreffenden Nebenpunkt voneinander abweicht und sich hinter dem abweichenden Erklärungsinhalt auch kein übereinstimmender innerer Wille feststellen lässt.6 Dagegen ist ein Vertragsschluss zu bejahen, wenn der Inhalt beider Erklärungen objektiv deckungsgleich ist; 7 entspricht in diesem Fall das von einer Partei objektiv Erklärte nicht ihrem inneren Willen, kann sie ihre Willenserklärung nach Maßgabe der §§ 119 I, 122 BGB anfechten.8

Liegt ein versteckter Dissens vor, kommt ein Vertrag grundsätzlich nicht zustande. Diese Rechtsfolge setzt § 155 BGB voraus.9 Das Vereinbarte soll aber ausnahmsweise verbindlich sein, wenn die Parteien den Vertrag mutmaßlich auch dann geschlossen hätten, wenn ihnen im Zeitpunkt der Einigung bewusst gewesen wäre, dass die Einigung lückenhaft ist. Dies ist durch Auslegung des vom Konsens gedeckten Vertragsinhalts festzustellen. Die verbleibende Lücke im Vertrag ist sodann anhand des dispositiven Gesetzesrechts bzw. durch ergänzende Vertragsauslegung zu schließen.

Voraussetzung für eine ergänzende Vertragsauslegung ist, dass die Vereinbarung eine Regelungslücke, d. h. eine planwidrige Unvollständigkeit, aufweist.10 Das ist dann der Fall, wenn die Parteien einen Punkt übersehen oder ihn bewusst offengelassen haben, weil sie ihn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses für nicht regelungsbedürftig gehalten haben, und sich diese Annahme nachträglich als unzutreffend herausstellt. Dabei kann von einer planwidrigen Regelungslücke nur gesprochen werden, wenn der Vertrag eine Bestimmung vermissen lässt, die erforderlich ist, um den ihm zu Grunde liegenden Regelungsplan der Parteien zu verwirklichen, also ohne Vervollständigung des Vertrags eine angemessene, interessengerechte Lösung nicht zu erzielen ist. Bei der Schließung einer vertraglichen Lücke ist darauf abzustellen, was die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner vereinbart hätten, wenn sie den von ihnen nicht geregelten Fall bedacht hätten. Dabei ist zunächst an den Vertrag selbst anzuknüpfen; die in dem Vertrag enthaltenen Regelungen und Wertungen, sein Sinn und Zweck sind Ausgangspunkt der Vertragsergänzung.


  1. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 154 Rn. 3.
  2. BGH, Urt. v. 24.02.1983 – I ZR 14/81, NJW 1983, 1727, 1728; OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 10.09.2014 – 14 U 103/12, NJOZ 2015, 916 (zum Mietvorvertrag).
  3. BGH, Urt. v. 06.12.2001 – III ZR 296/00, NJW 2002, 817, 818; BGH, Urt. v. 30.09.1992 – VIII ZR 196/91, NJW 1993, 64, 65.
  4. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 154 Rn. 3.
  5. Schack, BGB AT, 17. Aufl. 2023, Rn. 214.
  6. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 155 Rn. 3.
  7. Siehe hierzu den Fall: “Teure Tennisbälle”
  8. BGH, Urt. v. 05.12.2002 – VII ZR 342/01 NJW 2003, 743.
  9. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 155 Rn. 5 f.
  10. Hier und zum Folgenden: BGH, Urt. v. 27.04.2023 – VII ZR 144/22, Rn. 24; BGH, Urt. v. 10.05.2019 – LwZR 4/18, Rn. 14, 17; BGH, Urt. v. 17.05.2018 – VII ZR 157/17 Rn. 23.