Die Systematik der Pflichtverletzung
Die Systematik der Pflichtverletzung (§ 280 BGB)
Zentraler Begriff des Leistungsstörungsrechts ist die Pflichtverletzung.1 Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen (§ 280 I 1 BGB). Im Rücktrittsrecht begegnet einem der Begriff der Pflichtverletzung in § 323 III, V 2 BGB, beim Kündigungsrecht in § 314 II BGB.
Bei den Voraussetzungen eines Rücktrittsrechts oder eines Schadensersatzanspruchs ist nach der Art der Pflichtverletzung und ihrer Ursache (Unmöglichkeit, Verzögerung der Leistung, Nebenpflichtverletzung) sowie – bei Schadensersatzansprüchen – dem geltend gemachten Schaden („statt der Leistung“ oder „neben der Leistung“) zu differenzieren.
Eine Pflichtverletzung liegt im Ausgangspunkt immer dann vor, wenn das Verhalten des Schuldners vom objektiven Pflichtenprogramm des Schuldverhältnisses abweicht.2
Die subjektive Verantwortlichkeit des Schuldners im Sinne einer Vorwerfbarkeit ist hingegen keine Frage der Pflichtverletzung, sondern allein des Vertretenmüssens. Mit diesem Begriff wird die Zurechenbarkeit der (objektiven) Pflichtverletzung an den Schuldner, d. h. dessen Verantwortlichkeit für die Pflichtverletzung beschrieben. Erst beide Elemente – Pflichtverletzung und Vertretenmüssen – zusammen begründen eine Schadensersatzpflicht des Schuldners gemäß § 280 I BGB. Dabei trifft den Schuldner hinsichtlich des Vertretenmüssens grundsätzlich3 nach § 280 I 2 BGB die Darlegungs- und Beweislast, während der Gläubiger für alle anderen Tatbestandsmerkmale des § 280 I BGB darlegungs- und beweisbelastet ist. Zu beachten ist, dass ein Vertretenmüssen nicht bei allen Rechtsbehelfen des Leistungsstörungsrechts erforderlich ist, so beispielsweise beim Rücktritt (§§ 323, 324, 326 V BGB) und der Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund (§ 314 BGB).
Die Pflichten aus einem Schuldverhältnis lassen sich in leistungsbezogene Pflichten und nichtleistungsbezogene Pflichten aufteilen. Leistungsbezogene Pflichten (§ 241 I BGB) dienen dem sog. Leistungs- bzw. Äquivalenzinteresse des Gläubigers. Zu ihnen zählen die Nichtleistung (trotz Möglichkeit und infolge einer Unmöglichkeit), die Schlechtleistung und die Leistungsverzögerung. Nichtleistungsbezogene Pflichten (§ 241 II BGB) zielen demgegenüber nicht auf eine Verbesserung der Position des Gläubigers, sondern auf eine Vermeidung einer Verschlechterung der Position des Gläubigers; es geht um die Wahrung des status quo und damit um das sog. Integritätsinteresse des Gläubigers.
Liegt eine Pflichtverletzung vor, kommen mehrere Rechtsbehelfe des Schuldners in Betracht. Er kann vom Vertrag zurücktreten und (§ 325 BGB) vom Schuldner Schadensersatz statt der Leistung und Schadensersatz neben der Leistung verlangen.4 Anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung kann er vom Schuldner auch den Ersatz seiner Aufwendungen verlangen (§ 284 BGB).
Unmöglichkeit
Ist dem Schuldner die Leistung unmöglich (§ 275 I BGB) oder liegt ein der Unmöglichkeit gleichgestellter Tatbestand (§ 275 II, III BGB) vor, ist er von der primären Leistungspflicht befreit. Auf ein Vertretenmüssen kommt es insoweit nicht an. Die Leistung kann ihm bereits bei Vertragsschluss unmöglich sein (anfängliche Unmöglichkeit) oder erst nach Vertragsschluss unmöglich werden (nachträgliche Unmöglichkeit).
Braucht der Schuldner nach § 275 I – III BGB nicht zu leisten, kann der Gläubiger zurücktreten; auf den Rücktritt findet § 323 BGB mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass die Fristsetzung entbehrlich ist (§ 326 V BGB). Übt der Gläubiger das Rücktrittsrecht durch Erklärung gegenüber dem Schuldner (§ 349 BGB) aus, so wandelt sich das Schuldverhältnis in ein Rückgewährschuldverhältnis gemäß §§ 346 ff. BGB um. Das Rücktrittsrecht ist unabhängig von einem Vertretenmüssen des Schuldners und wird auch nicht durch die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs ausgeschlossen (§ 325 BGB).
Beim Recht des Gläubigers auf Schadensersatz ist zwischen den Fällen der anfänglichen und der nachträglichen Unmöglichkeit zu differenzieren. Im Falle anfänglicher Unmöglichkeit bestand wegen § 275 I BGB zu keinem Zeitpunkt eine primäre Leistungspflicht des Schuldners. Der Vertrag ist dennoch wirksam (§ 311a I BGB) und der Schuldner ist dem Gläubiger nach § 311a II BGB zum Schadensersatz statt der Leistung verpflichtet. § 311a II BGB ist gegenüber § 280 I BGB lex specialis, soweit es um einen Schadensersatz statt der Leistung geht. Anknüpfungspunkt des Vertretenmüssens ist im Rahmen des § 311a II BGB nicht die Herbeiführung der Unmöglichkeit, sondern der Umstand, dass der Schuldner einen Vertrag geschlossen hat, obwohl er wusste oder fahrlässig verkannt hat, dass er ihn nicht wird erfüllen können. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum Schadensersatzanspruch statt der Leistung wegen nachträglicher Unmöglichkeit gemäß §§ 280 I, III, 283 BGB: Vor Vertragsschluss hat sich der Schuldner über sein Vermögen zur Leistung zu informieren, nach Vertragsschluss hat er für die Bewirkung der versprochenen Leistung zu sorgen.5 Typologisch liegt also ein Fall der culpa in contrahendo vor, an den das Gesetz aber eine Ersatzpflicht auf das positive Interesse knüpft. Dies erklärt die systematische Einordnung des § 311a BGB direkt hinter § 311 II, III BGB. Nach zutreffender Ansicht verdrängt § 311a II BGB als lex specialis den Anspruch aus §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB.6 Auch eine analoge Anwendung des auf Ersatz des negativen Interesses gerichteten § 122 BGB scheidet nach h. M. aus.7
„Anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung“ kann der Gläubiger auch Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen (§ 284 BGB). Dem Gläubiger muss dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch statt der Leistung zustehen, d. h. es müssen die Voraussetzungen der §§ 280 I, III, 283 BGB oder des § 311a II BGB vorliegen.8
Nichtleistung trotz Möglichkeit / Schlechtleistung
Wenn der Schuldner die Leistung trotz Möglichkeit nicht oder nicht wie geschuldet erbringt, kann der Gläubiger vom Vertrag zurücktreten (§ 323 I BGB) und (§ 325 BGB) Schadensersatz statt der Leistung (§§ 280 I, III, 281 BGB), Schadensersatz neben der Leistung (§ 280 I BGB) und anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung Ersatz vergeblicher Aufwendungen (§ 284 BGB) verlangen.
Soweit das Gesetz für einzelne Vertragstypen spezielle Regelungen zum Gewährleistungsrecht enthält, haben diese Vorrang vor dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht (Beispiele: §§ 536 ff.; 651i ff. BGB). Es gibt aber auch Vertragstypen, bei denen die Regelungen des allgemeinen Leistungsstörungsrechts für entsprechend anwendbar erklärt und lediglich durch Detailregelungen ergänzt bzw. modifiziert werden (Beispiele: §§ 437, 634 BGB).
Leistungsverzögerung
Bei einer Verspätung der Leistung kann der Gläubiger gemäß § 323 I BGB vom Vertrag zurücktreten und vom Schuldner nach §§ 280 I, II, 286 BGB Schadensersatz neben der Leistung („Verzögerungsschaden“) sowie unter den Voraussetzungen der §§ 280 I, III, 281 BGB Schadensersatz statt der Leistung bzw. unten den Voraussetzungen des § 284 BGB Aufwendungsersatz verlangen.
Den Verzögerungsschaden kann der Gläubiger gemäß § 280 I, II BGB nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 BGB erstattet verlangen. Hierzu zählt i.d.R. auch eine Mahnung. Vor Verzugseintritt entstandene Verzögerungsschäden sind nicht ersatzfähig; für Verspätungsschäden, die vor Verzugseintritt entstanden sind, haftet der Schuldner nicht.9
Verletzung nichtleistungsbezogener Pflichten (Schutzpflichtverletzung)**
Verletzt der Schuldner eine Schutzpflicht, ist er dem Gläubiger gemäß §§ 280, 241 II BGB zum Ersatz seines dadurch entstehenden Schadens (neben der Leistung) verpflichtet. Bei diesem Anspruch geht es um das Integritätsinteresse.10 Daneben eröffnen die §§ 282, 324 BGB dem Gläubiger die Möglichkeit, Schadensersatz statt der Leistung geltend zu machen und (§ 325 BGB) vom Vertrag zurückzutreten.
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 325 – 339.
- BT-Drucks. 14/6040, S. 135 f.
- Ausnahme: Bei der Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten durch den Arbeitnehmer liegt die Darlegungs- und Beweislast auch hinsichtlich des Vertretenmüssens beim Gläubiger (Arbeitgeber), vgl. § 619a BGB.
- Zur Abgrenzung von Schadensersatz statt und neben der Leistung siehe Einheit.
- BGH, Urt. v. 19.10.2007 – V ZR 211/06, Rn. 37; BT-Drucks. 14/6040, S. 165.
- Canaris, JZ 2001, 499, 507; Erman/Kindl, BGB, 15. Aufl. 2017, § 311a Rn. 11; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 332; a. A. MünchKomm-BGB/Ernst, 8. Aufl. 2019, § 311a Rn. 21.
- MünchKomm-BGB/Ernst, 8. Aufl. 2019, § 311a Rn. 41; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 332; a. A. Canaris, JZ 2001, 499, 505; Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 311a Rn. 9.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 22 Rn. 74.
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 345.
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 338.