Die Schuld
Die Schuld
Innerhalb des dreistufigen Deliktsaufbaus bilden die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit zusammen den Unrechtstatbestand. Auf der Ebene der Rechtswidrigkeit geht es um die Frage, ob die Rechtsordnung die Tat ausdrücklich billigt und deshalb nicht als etwas Unrechtes einstuft.1 Demgegenüber betrifft die Schuld die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat im Sinne eines „Dafürkönnens“. Dem Täter wird vorgeworfen, dass er sich auf die Seite des Unrechts gestellt und gegen das Recht entschieden hat. Dies setzt seine persönliche Schuld voraus. Wer ohne Schuld handelt, kann nicht bestraft werden („nulla poena sine culpa“).
Das Gesetz geht davon aus, dass der Täter im Normalfall uneingeschränkt schulhaft handelt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn ausnahmsweise ein die Schuld ausschließender oder mindernder Grund eingreift (vgl. § 17 S. 1 StGB: „fehlt …“, §§ 20, 35 I 1 StGB: „ohne“).2 Für die Fallbearbeitung folgt daraus: Enthält der Sachverhalt keine Anhaltspunkte
- für Zweifel an der Schuldfähigkeit (§§ 19, 20, 21 StGB),
- für einen die Vorsatzschuld ausschließenden Erlaubnistatbestandsirrtum,
- für das Fehlen des Unrechtsbewusstseins oder
- für das Vorliegen eines Entschuldigungsgrundes,3
so beschränkt sich die Darstellung auf die schlichte Feststellung der Schuld („T handelte schuldhaft“).
Schuldunfähigkeit, §§ 19, 20 StGB
Schuldhaftes Handeln setzt Schuldfähigkeit voraus.4 In den Fällen der §§ 19, 20 StGB ist die Schuldfähigkeit komplett ausgeschlossen mit der Folge, dass der Täter nicht zu bestrafen ist.
Nach § 19 StGB ist schuldunfähig, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist (Schuldunfähigkeit des Kindes).
Auf die individuelle intellektuelle, sittliche und charakterliche Entwicklung des Kindes kommt es nicht an.5 Entscheidend ist das Alter zum Zeitpunkt der Begehung der Tat; wann der Erfolg eintritt, ist gleichgültig.
Eine Teilnahme an Taten des Kindes bleibt möglich, da weder die Anstiftung noch die Beihilfe eine schuldhafte Haupttat voraussetzen; das Kind muss den jeweiligen Tatbestand allerdings auch subjektiv erfüllen, also regelmäßig vorsätzlich handeln. Kennt der Beteiligte das Alter bzw. die geminderte Einsichtsfähigkeit des Kindes, kommt eine mittelbare Täterschaft (§ 25 I Alt. 2 StGB: „durch einen anderen“) in Betracht.
Prozessual ist die Schuldunfähigkeit des Kindes ein Prozesshindernis. Wird irrtümlich das Hauptverfahren (§§ 213 ff. StPO) eröffnet, ist das Verfahren einzustellen.
Bei Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren (§ 1 II JGG) kommt es gemäß § 3 JGG darauf an, ob sie nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug sind, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Bei Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahren) muss im Einzelfall geprüft werden, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewandt wird (§ 105 JGG). Hierbei geht es aber nicht um die Frage, ob der Täter überhaupt schuldfähig ist – wäre er es nicht, schiede auch eine Bestrafung nach dem Jugendstrafrecht aus –, sondern (nur) um die Frage, nach welchen Vorschriften der (schuldfähige) Erwachsene zu bestrafen ist.
Erwachsene (ab 18 Jahren) sind nur dann schuldunfähig, wenn bei ihnen eine anormale Störung i.S.v. § 20 StGB vorliegt. Nach dieser Vorschrift handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat6 wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Die Prüfung des § 20 StGB verläuft zweistufig.7 Der Täter muss einen bestimmten „biologischen“ Befund aufweisen, nämlich das Vorliegen einer krankhaften Störung (1. Stufe: „biologische Ebene“), und deswegen muss er unfähig sein, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (2. Stufe: „psychologische Ebene“).
1. Stufe: Eine krankhafte seelische Störung liegt beispielsweise bei Schizophrenie vor. Als tiefgreifende Bewusstseinsstörung gelten z. B. Schlaftrunkenheit und Hypnose sowie hochgradige Affektzustände. Schwachsinn ist eine angeborene Intelligenzschwäche. Die schwere seelische Abartigkeit nimmt deshalb eine Sonderrolle ein, weil es im Gegensatz zu den vorgenannten Fällen nicht um Fälle medizinischer Befunde geht, sondern um Psychopathien, Neurosen und Triebanomalien, die nicht auf einem nachweisbaren organischen Krankheitsprozess beruhen;8 es ist hier nur der psychische, nicht aber der biologische Bereich betroffen (Beispiele: Fetischismus und Triebstörungen mit Suchtcharakter,9 sexuelle Hörigkeit10).
2. Stufe: Auf der zweiten Ebene erfolgt die Prüfung, ob der Täter infolge der Störung unfähig ist, entweder das Unrecht der Tat einzusehen (Ausschluss der Einsichtsfähigkeit) oder nach dieser Einsicht zu handeln (Ausschluss der Steuerungsfähigkeit). Die Feststellung ist eine spezifisch richterliche Aufgabe, die dieser im Regelfall mit Hilfe eines Sachverständigen leistet.
Ein bei Begehung der Tat gemäß § 20 StGB Schuldunfähiger kann nach dem verwirklichten Tatbestand nicht bestraft werden.11 Ist der Täter schuldunfähig, so ist er mangels Schuld freizusprechen.12
Eine Ausnahme wird für den Fall der actio libera in causa diskutiert. In Rauschfällen greift regelmäßig § 323a StGB ein. Ansonsten kommen nur Maßregeln der Besserung und Sicherung gemäß §§ 63, 64 StGB in Betracht.
Verminderte Schuldfähigkeit, § 21 StGB
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat (lediglich) vermindert, so kann die Strafe nach § 49 I StGB gemildert werden (§ 21 StGB).13
Besonders praxis- und klausurrelevant ist die verminderte bzw. ausgeschlossene Schuldfähigkeit wegen Alkoholrauschs.14 Feste Promille-Grenzwerte, ab denen die Schuldfähigkeit sicher vermindert bzw. ausgeschlossen ist, existieren nicht, weil jeder auf Alkoholkonsum anders reagiert. In der Rechtsprechung dienen jedoch bestimmte Promillewerte als Beweisanzeichen. Von verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) ist ab 2,0‰ BAK (bei Tötungsdelikten: 2,2‰ BAK), von Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) ab 3,0‰ BAK (bei Tötungsdelikten: 3,3‰ BAK15) auszugehen.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 24 Rn. 1 f.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 24 Rn. 13.
- Siehe zu diesen Prüfugsschritten den entsprechnden Exkurs.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 24 Rn. 4.
- Hier und zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 19 Rn. 1 – 3.
- Die Schuldunfähigkeit muss bei Ausführung des tatbestandsmäßigen Verhaltens gegeben sein. Wird der Täter nach Beginn der Tatausführung schuldunfähig, so entfällt damit noch nicht unbedingt die Schuld. Erkrankungen nach der Tat lassen die Verantwortung unberührt, können aber zur Verhandlungsunfähigkeit (§§ 231, 231a StPO) oder zur Vollzugsuntauglichkeit (§ 455 StPO) führen (Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 20 Rn. 9 – 11).
- Hier und zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 20 Rn. 3 – 7; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 24 Rn. 5 – 7.
- BGH, Urt. v. 06.03.1986 – 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 24.
- Keiser, Jura 2001, 376 ff.
- BGH, Urt. v. 17.04.1991 – 2 StR 404/90, NStZ 1991, 383.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 24 Rn. 10.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 19 Rn. 13.
- Ob es zu einer Strafmilderung kommt, ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu prüfen (Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 21 Rn. 1).
- Zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 20 Rn. 4 und § 21 Rn. 1; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 24 Rn. 8 f.
- BGH, Beschl. v. 09.11.1999 – 4 StR 521/99, NStZ 2000, 136.