Die Rechtswidrigkeit der Tat

Die Rechtswidrigkeit der Tat

Auf der zweiten Stufe des dreistufigen Deliktsaufbaus, der Rechtswidrigkeit der Tat, geht es darum, das Unwerturteil über die Tat zu fällen.1 Eine gerechtfertigte Tat stellt kein Unrecht dar und wird vielmehr von der Rechtsordnung gebilligt.

Bei der nur entschuldigten, aber tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Tat ist dies anders. Hier missbilligt die Rechtsordnung die Tat und sieht allein wegen fehlender Strafbedürftigkeit von einer Sanktion ab. Deshalb gibt es eine Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe, § 28 I StGB) an einer entschuldigten, nicht aber an einer gerechtfertigten Tat.

Überblick über die Rechtsfertigungsgründe

Die Tat ist nicht rechtswidrig, wenn dem Täter ein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht.2 Rechtsfertigungsgründe können nicht nur aus dem Strafrecht, sondern auch aus dem Zivilrecht und dem öffentlichen Recht stammen.

Dies folgt aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung. Was zivilrechtlich oder öffentlich-rechtlich erlaubt ist, darf strafrechtlich nicht verboten sein.

Es gibt zudem keinen abgeschlossenen Katalog an Rechtsfertigungsgründen. Es sind auch ungeschriebene Rechtsfertigungsgründe zugunsten des Täters anerkannt. Die wichtigsten Rechtfertigungsgründe sind:

  • Notwehr, § 32 StGB;
  • Rechtfertigender Notstand;
  • Zivilrechtliche Notstände §§ 904, 228 BGB;
  • Zivilrechtliche Selbsthilferechte §§ 229, 230, 859, 562b BGB;
  • Vorläufige Festnahme gemäß § 127 I 1 StPO;
  • (Mutmaßliche) Einwilligung.

In der Fallbearbeitung müssen grundsätzlich alle in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründe erörtert werden. Dabei hat die Notwehr (§ 32 StGB) einen gewissen Vorrang und der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) Auffangcharakter.3

Struktur der Rechtsfertigungsgründe

Alle Rechtfertigungsgründe setzen das Vorliegen objektiver und subjektiver Merkmale voraus. Es gibt also einen objektiven und einen subjektiven Rechtfertigungstatbestand.4

Der objektive Rechtfertigungstatbestand soll den in der Erfüllung des objektiven Tatbestands liegenden Erfolgsunwert kompensieren, der subjektive Rechtfertigungstatbestand den Handlungsunwert des subjektiven Tatbestands beseitigen.

Subjektiv muss ein Rechtfertigungsvorsatz vorliegen. Er ist Mindestvoraussetzung für das subjektive Rechtfertigungselement beim Vorsatzdelikt und stellt bei diesem das kompensatorische Gegenstück zum Tatbestandsvorsatz dar. Dafür genügt auf jeden Fall ein Handeln in der sicheren Kenntnis der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen. Das bloße Fürmöglichhalten reicht aus, wenn der Täter auf das Vorhandensein der Rechtfertigungssituation vertraut und insoweit ihr Fehlen nicht in Kauf nimmt.5

Umstritten ist, ob das subjektive Rechtfertigungselement darüber hinaus stets einen Motivationszusammenhang im Sinne eines zielgerichteten Rechtfertigungswillens voraussetzt. Die besseren Gründe sprechen dafür, dies zu bejahen.

Handeln in Unkenntnis der Rechtsfertigungssituation

Handelt der Täter in Unkenntnis der ihn objektiv rechtfertigenden Situation, so ist umstritten, ob er wegen vollendeten oder nur versuchten Delikts zu bestrafen ist.6

Beispiel: Die Joggerin J ärgert sich über den direkt hinter ihr laufenden T und sprüht ihm deshalb Pfefferspray ins Gesicht. T gibt später zu, er habe gerade zu einer sexuellen Attacke auf J angesetzt. Objektiv ist die Tat der J – gefährliche Körperverletzung nach § 224 I Nr. 1 u. 2 StGB – durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt. Der J fehlt jedoch der Rechtfertigungsvorsatz und erst recht eine Verteidigungsabsicht.

Stellt man darauf ab, dass der Tatbestand objektiv und subjektiv erfüllt ist und das zur vollen Rechtfertigung erforderliche subjektive Element fehlt, ist J aus dem vollendeten Delikt zu bestrafen (Vollendungslösung).7

Führt man sich hingegen vor Augen, dass der Rechtfertigungsvorsatz den tatbestandlichen Handlungsunwert kompensieren soll, der objektive Rechtfertigungssachverhalt hingegen den tatbestandlichen Erfolgsunwert, stellt sich die Situation bei fehlendem Rechtfertigungsvorsatz wie folgt dar: Wenn der Täter objektiv gerechtfertigt einen Straftatbestand erfüllt, liegt objektiv nichts Missbilligenswertes vor, sodass der zum tatbestandsmäßigen Unrecht gehörende Erfolgsunwert entfällt. Übrig bleibt dann ein Handlungsunwert, der dem (bloßen) Versuchsunrecht entspricht. Dies spricht dafür, den objektiv gerechtfertigten Täter, dem der Rechtfertigungsvorsatz fehlt, nur wegen Versuchs zu bestrafen (Versuchslösung).8

Im vorigen Beispiel ist J nach dieser h. M. nur wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 224 I Nr. 1 u. 2, 22 StGB zu bestrafen.


  1. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 17 Rn. 1.
  2. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 17 Rn. 3 f.
  3. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 17 Rn. 6.
  4. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 17 Rn. 9 – 12.
  5. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 14.
  6. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 17 Rn. 13 – 19. Zur Straflosigkeit gelangt man nur dann, wenn man auf dem Boden einer objektiven Unrechtslehre subjektive Rechtfertigungselemente für entbehrlich hält. Dies aber wird aktuell in Rechtsprechung und Literatur – soweit ersichtlich – nicht mehr vertreten.
  7. BGH, Urt. v. 06.10.2004 – 1 StR 286/04, NStZ 2005, 332, 334.
  8. BGH, Beschl. v. 11.10.2016 – 1 StR 462/16, Rn. 16; Geppert, Jura 2007, 33, 34; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 17 Rn. 18; Rönnau, JuS 2009, 594, 596; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 406 ff.