Die Notwehr

Notwehr (§ 32 StGB)

Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig (§ 32 I StGB). Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (§ 32 II StGB).

Das Notwehrrecht beruht auf zwei Grundgedanken.1 Es besagt zum einen, dass niemand eine Verletzung seiner Rechtsgüter durch einen Angreifer hinnehmen muss; insoweit dient das Notwehrrecht dem Schutz von Individualrechtsgütern (Schutzprinzip). Zum anderen tritt der Notwehrübende für den Bestand der Rechtsordnung ein, indem er gleichsam stellvertretend für die nicht anwesende Staatsgewalt das Recht gegen das Unrecht verteidigt (Rechtsbewährungsprinzip). Von der Gewichtung dieser beiden Prinzipien hängt beispielsweise die Frage ab, ob eine Nothilfe gegen den Willen des Angegriffenen möglich ist.2 Leitet man aus dem Schutzprinzip ab, dass das Recht auf Nothilfe nur so weit gehen kann, wie sich der Angegriffene verteidigen lassen will, scheidet die Rechtfertigung einer aufgedrängten Nothilfe grundsätzlich aus.3

Prüfungsaufbau

Das Notwehrrecht räumt die weitesten Befugnisse ein und ist deshalb gegenüber anderen Rechtfertigungsgründen vorrangig zu prüfen, sobald es einschlägig sein könnte.4

Greift Notwehr ein, muss insbesondere nicht mehr auf § 34 StGB eingegangen werden, der Auffangcharakter hat. Neben § 32 StGB kann vor allem § 127 StPO anwendbar sein.

Die Voraussetzungen des § 32 StGB sind in folgender Reihenfolge zu prüfen:

Prüfungsschema: Notwehr, § 32 StGB

  1. Objektive Rechtfertigungselemente

    a) Notwehrlage: Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff

    b) Notwehrhandlung: Erforderliche und geeignete Verteidigungshandlung bei Einsatz des mildesten effektiven Mittels (nur gegen Rechtsgüter des Angreifers!)

    c) Gebotenheit der Notwehr (normative Einschränkungen)

  2. Subjektives Rechtfertigungselement: Verteidigungsvorsatz oder Verteidigungsabsicht?

Notwehrlage

Die Notwehr setzt einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff voraus (§ 32 II StGB).

Angriff ist jedes menschliche Verhalten, durch das ein rechtlich geschütztes Individualinteresse bedroht oder verletzt wird.5

Das Verhalten muss Handlungsqualität haben, also vom Willen getragen sein.6 Der Angriff muss durch einen Menschen verübt werden; bei Angriffen von Tieren greift § 228 StGB ein, es sei denn, das Tier wird von einem Menschen gesteuert (z. B. gehetzter Hund; dann § 32 StGB).7 Angriffe durch Unterlassen sind möglich, wenn den Unterlassenden eine besondere Rechtspflicht zum Handeln (§ 13 StGB) trifft.8 Notwehrfähig sind grundsätzlich alle Individualrechtsgüter; auf einen besonderen strafrechtlichen Schutz kommt es nicht an. Nicht notwehrfähig sind demgegenüber Rechtsgüter der Allgemeinheit; es gibt keine „Staatsnothilfe“.

Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert.9

Ein Angriff ist bereits dann gegenwärtig, wenn sich die durch das Verhalten des Angreifers begründete Gefahr so verdichtet hat, dass ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde.10 Ein gegenwärtiger Angriff ist auch ein Verhalten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde; hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist.11 Ist der Angriff noch nicht gegenwärtig, kommt ggf. eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht.12 Präventives Handeln ist nur in den Grenzen des § 34 StGB erlaubt; eine sog. „Präventivnotwehr“ ist nicht gestattet.13

Ein Angriff ist rechtswidrig, wenn der Angreifer seinerseits nicht gerechtfertigt ist.14 Notwehr scheidet immer dann aus, wenn der Angreifer eine Befugnis hat.15 Umgekehrt ist der Angriff rechtswidrig, wenn er im Widerspruch zur Rechtsordnung steht.16

Eine solche Befugnis kann sich nicht nur aus § 32 StGB ergeben („Notwehr gegen Notwehr ist unzulässig“), sondern auch aus anderen Rechtfertigungsgründen (z. B. § 127 StPO beim Festhalten des Straftäters, Einwilligung bei einverständlicher Prügelei).

Notwehrhandlung

Die Notwehrhandlung muss erforderlich sein, um den Angriff von sich (Notwehr) oder einem Dritten (Nothilfe) abzuwenden. Erlaubt ist dabei stets nur die Verteidigung gegen den Angreifer.17 Nur die Verletzung des Angreifers und seiner Rechtsgüter kann durch § 32 StGB gestattet sein, nicht aber Eingriffe in Rechtsgüter unbeteiligter Dritter und der Allgemeinheit.

Der BGH weicht diesen Grundsatz auf und hält es für möglich, dass durch Notwehr auch Eingriffe in Universalrechtsgüter durch Gefährdungen des Straßenverkehrs oder Verstöße gegen das Waffengesetz gerechtfertigt sein können, wenn deren Verletzung „untrennbar“ mit i.S.v. § 32 StGB erforderlichen Verteidigungshandlungen verbunden ist.18

Erforderlich ist eine Verteidigungshandlung dann, wenn sie zur Abwehr des Angriffs geeignet ist und unter den zur Verfügung stehenden Mitteln das mildeste darstellt.19 Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 II StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand; ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung (ex ante) beurteilt werden.20

Beispiel: Ein gezielter tödlicher Schuss ist erst dann erforderlich, wenn eine vorherige Androhung oder ein weniger gefährlicher Waffeneinsatz (z. B. ein Warnschuss oder ein Schuss in die Beine) den Angreifer nicht aufhalten konnte oder dem Verteidiger auf Grund der Schnelligkeit des Angriffs hierfür keine Zeit verblieb.21 Entsprechendes gilt für einen Messereinsatz.22

Stehen dem Verteidiger mehrere unterschiedlich belastende Mittel zur Verfügung, darf er dasjenige einsetzen, das die endgültige Beseitigung der Gefahr am besten gewährleistet. Nur unter mehreren gleichwirksamen Mitteln muss er dasjenige auswählen, das den geringsten Schaden anrichtet.23 Der Angegriffene muss sich aber nicht auf das Risiko einer ungenügenden Abwehrhandlung einlassen.24

Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung oder Güterabwägung findet nicht statt („Schneidigkeit des Notwehrrechts“).25 Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nicht, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, weil damit ein Hinnehmen des Angriffs verbunden wäre und weder das bedrohte Recht, noch die in ihrem Geltungsanspruch infrage gestellte Rechtsordnung gewahrt blieben.26 „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.“27

Gebotenheit der Notwehr

Das rigorose Notwehrrecht bedarf in gewissen Fällen normativer Einschränkungen (sozialethische Schranken bzw. „Schranken des Rechtsmissbrauchs“).28 Den gesetzlichen Anknüpfungspunkt dafür liefert das Wort „geboten“ in § 32 I StGB.

Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft (§ 33 StGB). Dieser sog. Notwehrexzess ist ein Entschuldigungsgrund und wird deshalb im Rahmen der Schuld dargestellt.

Subjektives Rechtfertigungselement

Umstritten ist, ob in subjektiver Hinsicht ein Handeln in Kenntnis der objektiven Notwehrvoraussetzungen im Sinne eines bloßen Verteidigungsvorsatzes ausreicht, oder ob darüber hinaus eine zielgerichtete Motivation im Sinne einer Verteidigungsabsicht notwendig ist.29

In der Literatur wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, für eine Kompensation des durch den Tatbestandsvorsatz geprägten Handlungsunwerts genüge der schlichte Verteidigungsvorsatz. Es käme einem reinen Gesinnungsstrafrecht gleich, jemanden, der etwas (objektiv) Erlaubtes tue, nur deshalb zu bestrafen, weil er dabei nicht den richtigen Zweck verfolge.30

Der BGH folgt dem nicht und fordert eine Verteidigungsabsicht.31 Dabei beruft er sich insbesondere auf den Wortlaut des § 32 II StGB („um … abzuwenden“). Einschränkend weist er jedoch darauf hin, dass andere Motive wie Hass, Rache, Wut und Eifersucht den Verteidigungswillen nicht ausschließen, solange sie den Verteidigungszweck nicht völlig in den Hintergrund drängen. Hierzu führt der BGH wörtlich aus:32

„Wird von dem Angegriffenen in einer Notwehrlage ein Gegenangriff auf Rechtsgüter des Angreifers geführt (sog. Trutzwehr), kann darin nur dann eine Angriffsabwehr gesehen werden, wenn in diesem Vorgehen auch tatsächlich der Wille zum Ausdruck kommt, der drohenden Rechtsverletzung entgegenzutreten. … Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren. Dabei ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv anzuerkennen, wenn andere Beweggründe (Vergeltung für frühere Angriffe, Feindschaft etc.) hinzutreten. Erst wenn diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass hinter ihnen der Wille das Recht zu wahren ganz in den Hintergrund tritt, kann von einem Abwehrverhalten keine Rede mehr sein (…). Hieran ist trotz in der Literatur geäußerter Kritik (…) festzuhalten.“


  1. Zum Folgenden: BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 27; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 1.
  2. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 4.
  3. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 113.
  4. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 3.
  5. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 6; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 7.
  6. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 7 – 10.
  7. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 7.
  8. Nach zutreffender Auffassung begründet § 323c StGB noch keine Handlungspflicht (zum Streitstand siehe Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 17).
  9. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 19; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 9.
  10. BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 17.
  11. BGH, Urt. v. 24.11.2016 – 4 StR 235/16, Rn. 12.
  12. Dies gilt insbesondere bei „Dauergefahren“ (Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 10).
  13. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 22.
  14. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 11. Zur Rechtswidrigkeit des Angriffs i.S.v. § 32 Abs. 2 StGB bei hoheitlichem Handeln siehe BGH, Urt. v. 09.06.2015 – 1 StR 606/14, Rn. 25 ff.
  15. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 28.
  16. BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 18.
  17. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 31.
  18. BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 29 (zum gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB); BGH, Beschl. v. 04.08.2010 – 2 StR 118/10, Rn. 14 (Einsatz eines unter Verstoß gegen § 52 Abs. 3 Nr. 1 WaffG mitgeführten Butterflymessers zu Verteidigungszwecken).
  19. BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 27; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 16.
  20. BGH, Beschl. v. 26.11.2013 – 3 StR 331/13, Rn. 5; BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 27; BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 2 StR 311/12, Rn. 6.
  21. BGH, Urt. v. 22.11.2000 – 3 StR 331/00, NStZ 2001, 143, 144.
  22. BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 2 StR 311/12, NStZ-RR 2013, 105.
  23. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 19.
  24. BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 2 StR 311/12, Rn. 6; BGH, Urt. v. 02.11.2011 – 2 StR 375/11, Rn. 24; BGH, Urt. v. 09.08.2005 – 1 StR 99/05, NStZ 2006, 152, 153; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 36.
  25. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 38.
  26. BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 27.
  27. id="fn27" class="footnote-item">Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 38.
  28. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 54.
  29. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 103.
  30. MünchKomm-StGB/Erb, 3. Aufl. 2017, § 32 Rn. 241; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 32 Rn. 23; Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 32 Rn. 63; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 97 ff.
  31. Ebenso Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 18 Rn. 109.
  32. BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 20.