Die Garantenstellung
Die Garantenstellung
Täter eines unechten Unterlassungsdelikts kann gemäß § 13 I StGB nur sein, wer „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine bestimmte Person eine besondere, über die allgemeine Solidarpflicht des § 323c I StGB hinausgehende Schutzpflicht gegenüber einer anderen Person hat; man spricht von einer Garantenstellung des Unterlassungstäters.1
Alle Erfolgsabwendungspflichten beruhen auf dem Grundgedanken, dass eine bestimmte Person in besonderer Weise zum Schutz des gefährdeten Rechtsguts aufgerufen ist und dass sich alle übrigen Beteiligten auf das helfende Eingreifen dieser Person verlassen und verlassen dürfen.2
Im Ausgangspunkt lassen sich zwei Grundtypen von Garantenstellungen unterscheiden: die Beschützer- und die Überwachergarantenstellung.3
Dem Beschützergaranten obliegen besondere Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter; er hat diese vor jeglichen Gefahren zu beschützen (Obhutspflichten). Dem Überwachungsgaranten obliegt demgegenüber die Verantwortung für bestimmte Gefahrenquellen; er hat dafür zu sorgen, dass niemand anderes durch sie zu Schaden kommt (Sicherungspflichten). In beiden Fällen muss es sich nach dem Wortlaut des § 13 I StGB um eine rechtliche und nicht nur sittlich begründete Einstandspflicht handeln.
Beschützergaranten
Besondere Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter, die eine Garantenstellung des Schutzpflichtigen i.S.v. § 13 I StGB begründen, sind insbesondere in folgenden Fallgruppen anerkannt:4
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Familiäre Verbundenheit
Familienrechtliche Beziehungen können Garantenpflichten auslösen. Beispiele: §§ 1353 ff. BGB (Beistandspflicht in der Ehe),5 §§ 1626, 1626a, 1631 BGB (elterliche Sorge),6 § 1618a BGB (Schutzpflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern),7 §§ 1793, 1800 BGB (Sorgerecht und Personensorge des Vormunds); § 2 LPartG (Personensorge des Lebenspartners). Umstritten ist, ob eine effektive Familiengemeinschaft erforderlich ist oder ob eine Garantenpflicht auch dann angenommen werden kann, wenn sich die betreffenden Personen auseinandergelebt haben oder sich noch nie begegnet sind. In der Fallbearbeitung kommt es in diesem Zusammenhang weniger auf ein bestimmtes Ergebnis als auf ein Problembewusstsein und eine vertretbare Argumentation an.
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Enge persönliche Lebensbeziehungen
Eine Beschützergarantenstellung kann auch aus engen persönlichen Lebensbeziehungen erwachsen, bei denen ein mit der familiären Verbundenheit vergleichbares besonderes Näheverhältnis besteht. Beispiele: Langjährige eheähnliche Lebens- und Hausgemeinschaften, auf Dauer angelegte Partnerschaften; bloße Freundschaften und Liebesverhältnisse reichen nicht.
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Gefahrengemeinschaften
Bei diesen Beschützergaranten geht es um Mitglieder spezieller Gefahrengemeinschaften, die sich zusammengetan und gegenseitig (konkludent) versprochen haben, sich gegenseitig zu beschützen. Beispiele: Bergsteigergemeinschaft, Expeditionsteilnehmer, Tiefseetaucher; bloße Zech- und Drogengemeinschaften sowie Unglücks- und Schicksalsgemeinschaften (z. B. Schiffbrüchige, Katastrophenopfer) reichen demgegenüber – mangels Übernahme einer Beistandspflicht – nicht.
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Übernahme von Schutz- und Beistandspflichten
Die Funktion eines Beschützergaranten kann auch aus vertraglicher oder auch nur rein faktischer Übernahme erwachsen. Beispiele: Babysitter, Kindergärtner, Bademeister, Rettungsschwimmer, Bergführer, Taxifahrer, behandelnde Ärzte und Pflegepersonal.
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Organe juristischer Personen und Amtsträger
Organe juristischer Personen (z. B. der Geschäftsführer einer GmbH, § 35 GmbHG) sind als Beschützergaranten verpflichtet, von der juristischen Person alle drohenden Schäden abzuwenden; diese Pflicht tritt neben die Vermögensbetreuungspflicht, die durch pflichtwidriges Unterlassen verletzt werden und zur Strafbarkeit gemäß § 266 StGB führen kann. Staatliche Amtsträger können ebenfalls dazu verpflichtet sein, zugunsten der Bürger und staatlicher Interessen besondere Schutzpflichten wahrzunehmen. Beispiel: Polizeibeamte haben nicht nur die allgemeine Aufgabe, Straftaten zu verhindern, sondern im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Pflicht, den Bürger vor gegen ihn gerichteten Straftaten zu schützen.8
Überwachergaranten
Während dem Beschützergaranten die Pflicht auferlegt ist, den Schutzbedürftigen vor Gefahren zu schützen, die diesem von dritter Seite oder von ihm selbst9 drohen, muss der Überwachergarant Dritte und/oder die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, die von einer Gefahrenquelle ausgehen. Ihm wird die „Herrschaft über den Gefahrenherd“10 abverlangt. Anerkannt sind insbesondere folgende Fallgruppen:11
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Verkehrssicherungspflichten
Derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft, hat die erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen.12 Da eine absolute Sicherung gegen Gefahren nicht erreichbar ist, beschränkt sich die Verkehrssicherungspflicht auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind und die ein umsichtiger Mensch für notwendig hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Strafbar ist die Nichtabwendung einer Gefahr aus der vom Garanten eröffneten Gefahrenquelle dann, wenn eine nahe liegende Möglichkeit begründet wurde, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können. >Beispiele: Anlagenbetreiber (nach dem AtomG oder BImSchG), Haueigentümer, Tier- und Fahrzeughalter.
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Pflicht zur Beaufsichtigung Dritter
Die gesetzliche Pflicht zur Beaufsichtigung Dritter hat nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Beschützergarantie, sondern auch unter dem Aspekt der Sicherungspflicht Bedeutung. Beispiele: Eltern haben die Verantwortung für ihre noch nicht strafmündigen Kinder, Polizeibeamte für die in Polizeigewahrsam befindlichen Störer bzw. Tatverdächtigen.13
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Vorangegangenes pflichtwidriges gefährdendes Verhalten (Ingerenz)
Eine Garantenstellung ergibt sich jedenfalls dann, wenn der Betreffende durch ein objektiv pflichtwidriges und vorwerfbares Tun oder Unterlassen eine naheliegende Gefahr für die Rechtsgüter eines anderen geschaffen hat. Beispiel: T verletzt den O aufgrund eines Fahrfehlers mit seinem Auto schwer. Obwohl T erkennt, dass der Tod des O droht und O dringend ärztliche Hilfe benötigt, unternimmt er nichts. T ist Ingerenzgarant und macht sich nach §§ 212, 13 StGB strafbar, wenn er den Tod des O hätte verhindern können. Ob sich auch aus einem rechtmäßigen Vorverhalten eine Ingerenzgarantenstellung ergeben kann, ist umstritten. Beispiel: T wird von O angegriffen und verteidigt sich in Notwehr (§ 32 StGB) mit einem Messerstich. Den danach hilflosen O lässt T liegen und wünscht ihm den Tod. O stirbt an der Stichverletzung, wäre jedoch bei unverzüglicher Einleitung von Rettungsmaßnahmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden. Teilweise wird die Auffassung vertreten, auch dem erlaubten Vorverhalten hafte die Verpflichtung an, vermeidbare Rechtsgutbeeinträchtigungen zu verhindern.14 Danach wäre T gemäß §§ 212, 13 StGB zu bestrafen. Die h. M. lehnt dies zu Recht ab und setzt für die Annahme einer Garantenstellung stets voraus, dass das vorangegangene gefährliche Verhalten rechtswidrig ist.15 Danach ist T allein wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c I StGB strafbar.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 780.
- BGH, Urt. v. 25.09.2014 – 4 StR 586/13, Rn. 19.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 50 Rn. 3 – 10; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 782.
- Zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 31 – 45; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 50 Rn. 11 – 41; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 785 - 796.
- BGH, Urt. v. 24.11.2016 – 4 StR 289/16, Rn. 15 („jedenfalls bei bestehender Lebensgemeinschaft“).
- BGH, Urt. v. 12.11.2009 – 4 StR 227/09, Rn. 13.
- BGH, Beschl. v. 02.08.2017 – 4 StR 169/17, Rn. 13 ff.; BGH, Beschl. v. 13.10.2016 – 3 StR 248/16, Rn. 3.
- BGH, Urt. v. 29.10.1992 – 4 StR 358/92, BGHSt 38, 388, 390.
- BGH, Urt. v. 04.09.2014 – 4 StR 473/13, Rn. 46, 56.
- Roxin, Strafrecht AT I, 1. Aufl. 2003, § 32 Rn. 107.
- Zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 46 – 63; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 785 – 796.
- Hier und zum Folgenden: BGH, Urt. v. 21.12.2011 – 2 StR 295/11, Rn. 7.
- BGH, Urt. v. 04.09.2014 – 4 StR 473/13, Rn. 61 ff.
- Arzt, JA 1980, 712, 716; Herzberg, JZ 1986, 986 ff.
- BGH, Urt. v. 06.05.1986 – 4 StR 150/86, BGHSt 34, 82, 84; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 801.