Der Widerruf von Verbraucherverträgen
Der Widerruf von Verbraucherverträgen (§§ 355 ff. BGB)
Wird ein Vertrag zwischen einem Verbraucher (§ 13 BGB) und einem Unternehmer (§ 14 BGB) geschlossen, ist der Verbraucher im Zweifel die unterlegene Partei.1 Deshalb wird der Verbraucher besonders geschützt. Soweit der Verbraucherschutz alle oder zumindest mehrere Vertragstypen betrifft, ist er im Schuldrecht AT geregelt. Dazu gehören § 310 III BGB und die §§ 312 ff., 355 ff. BGB.
Im Schuldrecht BT finden sich besondere verbraucherschützende Regelungen zum Verbrauchsgüterkauf (§§ 474 ff. BGB), zum Teilzeit-Wohnrechtevertrag (§§ 481 ff. BGB), zum Verbraucherdarlehensvertrag (§§ 491 ff. BGB), zu Finanzierungshilfen (§§ 506 ff. BGB) und Ratenlieferungsverträgen (§ 510 BGB) sowie zum Verbraucherbauvertrag (§§ 650i ff. BGB).
§ 310 III BGB definiert Verbraucherverträge als Verträge zwischen einem Unternehmen und einem Verbraucher. Die §§ 312 ff. BGB finden auf sie nur dann Anwendung, wenn sie eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben (§ 312 I BGB).
Meist wird der Unternehmer die vertragstypische Leistung (z. B. Lieferung einer Sache) erbringen und der Verbraucher hierfür ein Entgelt (z. B. Kaufpreis) zahlen. Zwingend ist dies aber nicht; die §§ 312 ff. BGB gelten grundsätzlich2 auch dann, wenn der Verbraucher die vertragstypische Leistung erbringt.
Das wichtigste Instrument des Verbraucherschutzes bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und bei Fernabsatzverträgen ist das Widerrufsrecht des Verbrauchers. Es gibt dem Verbraucher die Möglichkeit, sich ohne Grund von einem Vertrag mit dem Unternehmer zu lösen.3 Dadurch soll er vor vertraglichen Bindungen geschützt werden, die er eventuell übereilt und ohne Abwägung der für- und widersprechenden Gesichtspunkte eingegangen ist. Die widerrufliche Willenserklärung des Verbrauchers und der abgeschlossene Vertrag sind zunächst nur schwebend wirksam; sie können durch Widerruf endgültig unwirksam werden.
Es ist aber zu prüfen, ob der Vertrag im Übrigen wirksam zustande gekommen ist. Grundsätzlich können nur Willenserklärungen in Bezug auf wirksame Verträge widerrufen werden. Unter Beachtung der „Kipp´schen Lehre von der Doppelwirkung im Recht“4 kann aber auch ein nichtiger Vertrag widerrufen werden.5
Voraussetzungen des Widerrufs
Das Widerrufsrecht ist ein Gestaltungsrecht6. Es müssen ein Gestaltungsrecht (Widerrufsrecht) und eine fristgerechte Gestaltungserklärung (Widerrufserklärung) vorliegen. Ferner darf das Widerrufsrecht nicht ausgeschlossen sein.
Das Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen (vgl. § 310 III BGB) muss dem Verbraucher durch Gesetz eingeräumt sein (§ 355 I 1 BGB).7
Nach § 312g I BGB steht dem Verbraucher bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und bei Fernabsatzverträgen ein Widerrufsrecht gemäß § 355 BGB zu, sofern kein Ausnahmefall des § 312g II BGB vorliegt und dem Verbraucher ein Widerrufsrecht nicht bereits auf Grund der §§ 495, 506 – 513 BGB oder § 305 KAGB zusteht (§ 312g III BGB).8
Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge sind in § 312b BGB definiert, Fernabsatzverträge in § 312c BGB. Die Gemeinsamkeit beider Vertriebsformen besteht darin, dass die Verträge in unüblicher Weise, unter unüblichen Umständen oder an einem unüblichen Ort abgeschlossen oder angebahnt werden.9 Beim Vertragsschluss außerhalb von Geschäftsräumen besteht die Gefahr, dass der Verbraucher überrascht und überrumpelt wird und deshalb einen Vertrag abschließt, den er gar nicht abschließen wollte. Beim Fernabsatzvertrag hat der Verbraucher, wenn er Käufer ist, in der Regel keine Möglichkeit, die Ware vor dem Vertragsschluss zu sehen und zu prüfen. Sinn und Zweck der §§ 312 b ff. BGB ist es, den Verbraucher vor Gefahren zu schützen, die sich aus diesen ungewöhnlichen Situationen bei Vertragsschluss ergeben können.
Handelt bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen auf Seiten des Unternehmers ein Vertreter oder Gehilfe, so kommt es auf dessen persönliche Anwesenheit an (§ 312b I 2 BGB). Wenn für den Verbraucher ein Vertreter handelt, muss die Verhandlungs- oder Abschlusssituation des § 312b I 1 BGB in der Person des Vertreters gegeben sein.10 Das folgt aus dem Rechtsgedanken des § 166 I BGB.11
Bei Fernabsatzverträgen muss der Unternehmer als Lieferant beteiligt sein. Der Verbraucher ist nämlich nur dann schutzwürdig, wenn ihm als Käufer die Möglichkeit fehlt, die Ware vor Vertragsschluss zu sehen und zu prüfen.12 § 312c BGB gilt nicht bei Verträgen über die Lieferung durch Verbraucher an Unternehmer.13 Ein Fernabsatzvertrag setzt ferner voraus, dass der Einsatz von Fernkommunikationsmitteln durch den Unternehmer nicht nur zufällig erfolgt (§ 312c I 2 Hs. 2 BGB); der Unternehmer muss personell und sachlich so ausgestattet sein, dass er regelmäßig im Fernabsatz zu tätigende Geschäfte bewältigen kann.14
Der Widerruf muss fristgerecht erklärt werden (§ 355 I 1 BGB).15 Der Widerruf erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Unternehmer (§ 355 I 2 BGB). Aus der Erklärung muss der Entschluss des Verbrauchers zum Widerruf des Vertrages eindeutig hervorgehen (§ 355 I 3 BGB).16 Eine Begründung muss der Widerruf nicht enthalten (§ 355 I 4 BGB). Auch eine Form ist grundsätzlich17 nicht einzuhalten; eine mündliche Erklärung reicht aus. Die Widerrufsfrist beträgt 14 Tage (§ 355 II 1 BGB). Sie beginnt, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit Vertragsschluss (§ 355 II 2 BGB). Die Fristberechnung erfolgt nach den §§ 187 I, 188 II, 193 BGB. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs (§ 355 I 5 BGB).
Als empfangsbedürftige Willenserklärung wird der Widerruf nach § 130 I 1 BGB erst wirksam, wenn er dem Unternehmer zugegangen ist. Bis zum Zugang ist die Widerrufserklärung ihrerseits frei widerruflich (§ 130 I 2 BGB).18 Nach seinem Zugang ist der Widerruf als Gestaltungserklärung hingegen unwiderruflich und kann auch nicht zurückgenommen werden.19
Stellt der Unternehmer auf seiner Webseite das Muster-Widerrufsformular nach Anlage 2 zu Art. 246a § 1 II 1 Nr. 1 EGBGB ein, damit der Verbraucher den Widerruf durch Ausfüllen und Übermitteln dieses Formulars ausüben kann (§ 356 I 1 BGB), muss er dem Verbraucher den Zugang des Widerrufs unverzüglich auf einem dauerhaften Datenträger bestätigen (§ 356 I 2 BGB).
Für den Beginn der Widerrufsfrist sind detaillierte Sonderbestimmungen in § 356 II, III BGB enthalten. Nach § 356 III 1 BGB beginnt die Widerrufsfrist nicht, bevor der Unternehmer seine Informationspflichten zum Widerrufsrecht erfüllt hat. Insbesondere muss er dem Verbraucher in den Fällen des Art. 246a § 4 I, III EGBGB vorvertraglich eine Widerrufsbelehrung zur Verfügung stellen, und zwar zusammen mit oder nach der Abgabe der auf den Vertragsschluss gerichteten Erklärung des Verbrauchers.20 Eine vorherige (verfrühte) Widerrufsbelehrung ist nicht geeignet, die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers wiederherzustellen; sie setzt daher die Widerrufsfrist nicht in Gang. Bei unterbliebener oder nicht ordnungsgemäßer Belehrung über das Widerrufsrecht erlischt dieses – außer bei Verträgen über Finanzdienstleistungen (§ 356 III 3 BGB) – spätestens 12 Monate nach Ablauf der ursprünglichen Widerrufsfrist von 14 Tagen (§ 356 III 2 BGB).
Der Widerruf darf schließlich nicht ausgeschlossen sein.
Dies kann infolge teleologischer Reduktion der §§ 312b, 312c BGB der Fall sein, wenn es bei Abgabe der Willenserklärung des Verbrauchers an der Überraschungs- und Überrumpelungssituation fehlt. In engen Grenzen ist auch ein Ausschluss nach § 242 BGB wegen Rechtsmissbrauchs bzw. unzulässiger Rechtsausübung21 oder Verwirkung22 möglich.
Rechtsfolgen des Widerrufs
Die Rechtsfolgen des Widerrufs ergeben sich aus den §§ 355, 357 ff. BGB.23
Diese Folgen können durch Vertrag nur zu Gunsten des Verbrauchers geändert werden (§ 361 II 1 BGB). Weitergehende Ansprüche des Unternehmers gegen den Verbraucher infolge des Widerrufs sind ausgeschlossen (§ 361 I BGB).
Hat der Verbraucher sein Widerrufsrecht fristgerecht ausgeübt, sind der Verbraucher und der Unternehmer nicht mehr an ihre auf den Abschluss des Vertrags gerichteten Willenserklärungen gebunden (§ 355 I 1 BGB). Die gegenseitigen Erfüllungspflichten erlöschen.
Der zunächst schwebend wirksame Verbrauchervertrag wird durch den Widerruf unwirksam und wandelt sich ex nunc in ein Rückgewährschuldverhältnis um. Die empfangenen Leistungen sind unverzüglich (§ 121 I 1 BGB) zurückzugewähren (§ 355 III 1 BGB = Anspruchsgrundlage für den Rückgewähranspruch).
Die Gefahr des Untergangs oder der Verschlechterung der Ware beim Rücktransport trägt der Unternehmer (§ 355 III 4 BGB).
§ 357 BGB enthält zahlreiche Besonderheiten für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge. Besonders relevant sind folgende:
Die empfangenen Leistungen sind spätestens nach 14 Tagen zurückzugewähren (§ 357 I BGB).
Die Frist beginnt für den Unternehmer mit dem Zugang, für den Verbraucher mit der Abgabe der Widerrufserklärung (§ 355 III 2 BGB). Der Verbraucher wahrt diese Frist durch die rechtzeitige Absendung der Ware (§ 355 III 3 BGB).
Der Unternehmer muss auch etwaige Zahlungen des Verbrauchers für die Lieferung zurückgewähren, sofern diese Kosten nicht durch Sonderwünsche des Verbrauchers verursacht wurden (§ 357 II BGB).
Dieser Kostenerstattungsanspruch des Verbrauchers soll sicherstellen, dass der Verbraucher nicht von seinem Widerrufsrecht abgehalten wird, weil er fürchten muss, auf diesen Kosten nach dem Widerruf sitzen zu bleiben.24
Bei einem Verbrauchsgüterkauf (§ 474 BGB) kann der Unternehmer die Rückzahlung verweigern,25 bis er die Ware zurückerhalten oder der Verbraucher den Nachweis erbracht hat, dass er die Ware abgesandt hat (§ 357 IV 1 BGB).
Dies gilt nicht, wenn der Unternehmer angeboten hat, die Ware abzuholen (§ 357 IV BGB). Dann ist der Verbraucher nicht verpflichtet, die empfangenen Waren zurückzusenden (§ 357 V BGB).
Der Verbraucher trägt die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Ware, wenn der Unternehmer ihn darüber ordnungsgemäß belehrt und sich nicht bereit erklärt hat, diese Kosten zu tragen (§ 357 VI 1 u. 2 BGB).
Bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, bei denen die Waren zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zur Wohnung des Verbrauchers geliefert worden sind, ist der Unternehmer verpflichtet, die Waren auf eigene Kosten abzuholen, wenn die Waren so beschaffen sind, dass sie nicht per Post zurückgesandt werden können (§ 357 VI 3 BGB).
Nach § 357 VII BGB (= Anspruchsgrundlage) hat der Verbraucher unter den genannten Voraussetzungen für einen Wertverlust der Ware (verschuldensunabhängig) Wertersatz zu leisten.26
Nach § 357 VII BGB (=Anspruchsgrundlage) hat der Verbraucher unter den genannten Voraussetzungen für einen Wertverlust der Ware (verschuldensunabhängig) Wertersatz zu leisten.
Besonderheiten gelten bei verbundenen und zusammenhängenden Verträgen (§§ 358 – 360 BGB).
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 19 Rn. 1 – 3.
- Ausnahme: Beim Fernabsatzvertrag muss der Unternehmer als Lieferant am Vertrag beteiligt sein (§ 312c BGB).
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 19 Rn. 18 – 21.
- R. Schmidt, Schuldrecht AT, 13. Aufl. 2019, Rn. 1024.
- BGH, Urt. v. 25.11.2009 – VIII ZR 318/08.
- Aufgrund der Vertragsfreiheit kann auch für nicht kraft Gesetzes unter § 355 BGB fallende Verträge ein Widerrufsrecht nach dieser Vorschrift vereinbart werden (BGH, Urt. vom 22.05.2012 – II ZR 88/11, Rn. 11; BGH, Urt. v. 06.12.2011 – XI ZR 401/10, Rn. 15; Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 19 Rn. 24).
- Widerrufsrechte finden sich dort in den §§ 495, 506 I, 510 II BGB. Auch das Widerrufsrecht nach § 485 BGB ist zu beachten.
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 19 Rn. 7.
- BGH, Urt. v. 02.05.2000 – XI ZR 150/99, NJW 2000, 2268, 2270; Hk-BGB/Schulte-Nölke, 10. Aufl. 2019, § 312b Rn. 12.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 17 Rn. 13.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 17 Rn. 14.
- BGH, Urt. v. 10.12.2014 – VIII ZR 90/14, Ls. 2 u. Rn. 22.
- BGH, Urt. v. 17.10.2018 – VIII ZR 94/17 Rn. 18 f.; BGH, Urt. v. 23.11.2017 – IX ZR 204/16, Rn. 19.
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 19 Rn. 25 – 33.
- Das Wort „widerrufen“ braucht der Verbraucher nicht zu verwenden. Es genügt, wenn der Erklärende deutlich zum Ausdruck bringt, er wolle den Vertrag von Anfang an nicht gelten lassen. (BGH, Urt. v. 12.01.2017 – I ZR 198/15, Ls. 1).
- Ausnahme: § 356a I BGB (Textform gemäß § 126b BGB).
- BGH, Urt. v. 07.11.2017 - XI ZR 369/16, Rn. 24.
- BGH, Urt. v. 07.11.2017 – XI ZR 369/16, Rn. 29.
- BGH, Urt. v. 23.09.2010 – VII ZR 6/10, Rn. 13 ff.
- BGH, Urt. v. 16.03.2016 – VIII ZR 146/15, Ls. 2; BGH, Urt. v. 25.11.2009 – VIII ZR 318/08, Rn. 20.
- BGH, Hinweisbeschl. v. 23.01.2018 – XI ZR 298/17, Rn. 19 ff.
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 19 Rn. 34 – 44.
- Vgl. EuGH, Urt. v. 15.04.2010 – C-511/08, NJW 2010, 1941 und BGH, Urt. v. 07.07.2010 – VIII ZR 268/07, Ls.
- § 357 IV 1 BGB ist ein spezielles Zurückbehaltungsrecht (Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 357 Rn. 7).
- BT-Drucks. 17/12637, S. 63; Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 357 Rn. 9.
- Dieser Begriff des Wertverlustes umfasst grundsätzlich sowohl die Abnutzung infolge des normalen Gebrauchs der Sache als auch darüber hinausgehende Verschlechterungen einschließlich Beschädigungen der Sache durch unsachgemäße Handhabung oder übermäßige Inanspruchnahme.