Der Vorsatz
Der Vorsatz
Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht (§ 15 StGB).
Definition des Vorsatzes
Der Vorsatz wird kurz als „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“1 definiert.2 Der Täter muss den Willen (voluntatives Element) zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis (kognitives Element) seiner objektiven Tatbestandsmerkmale haben.
Beim Wissenselement geht es um die Kenntnis der Tatbestandsmerkmale (vgl. § 16 I 1 StGB).3 Neben dem sicheren Voraussehen der Tatbestandsverwirklichung reicht auch das bloße Fürmöglichhalten. Ferner ist nicht erforderlich, dass der Täter bei Begehung der Tat bewusst reflektierend an das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale denkt; es reicht vielmehr schon aus, wenn ihm die Tatumstände im Sinne eines ständigen Begleitwissens oder sachgedanklichen Mitbewusstseins als jederzeit verfügbares Wissen präsent sind. Das Wollenselement hat insbesondere Bedeutung bei der Abgrenzung des Eventualvorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit.
Gegenstand des Vorsatzes
Gegenstand oder Bezugspunkt des Vorsatzes sind alle objektiven Tatbestandsmerkmale.4 Dies folgt im Umkehrschluss aus § 16 I 1 StGB, der anordnet, dass der Vorsatz bereits dann entfällt, wenn der Täter bloß „einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“.
Greift § 16 I 1 StGB ein und liegt ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum vor, bleibt jedoch ggf. eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung zu prüfen, § 16 I 2 StGB.
Zu den objektiven Tatbestandsmerkmalen gehören auch die Merkmale von Qualifikationen (z. B. §§ 224, 244, 250 StGB) und ungeschriebene Tatbestandsmerkmale (z. B. Vermögensverfügung bei § 263 StGB).
Bei erfolgsqualifizierten Delikten genügt hinsichtlich des qualifizierenden Erfolgs ausnahmsweise „wenigstens“ fahrlässiges (z. B. §§ 226 I, 227 I, 239 IV i.V.m. § 18 StGB) bzw. „wenigstens“ leichtfertiges (z. B. §§ 239a III, 251 StGB) Handeln.
Regelbeispiele (z.B. §§ 243, 263 III StGB) enthalten benannte Strafzumessungsregeln und keine objektiven Tatbestände. Die §§ 15, 16 I 1 StGB sind auf sie gleichwohl analog anzuwenden, d. h. die Regelbeispielmerkmale sind wie objektive Tatbestandsmerkmale zu behandeln.
Nicht vom Vorsatz umfasst sein müssen hingegen die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit (vgl. §§ 186, 231, 323a StGB) und sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen (z. B. Schuld, Strafantrag).
Zeitpunkt des Vorsatzes
Der Vorsatz muss „bei Begehung der Tat“5 vorliegen (vgl. § 16 I 1 StGB). Damit ist klargestellt, dass die objektive Tatbestandsverwirklichung und der Vorsatz zusammenfallen bzw. gleichzeitig vorliegen müssen (Koinzidenz- oder Simultaneitätsprinzip).6 Der BGH formuliert hierzu:7
„[13] Voraussetzung für die Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat ist nach § 16 Abs. 1 StGB, dass der Täter die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, bei ihrer Begehung kennt. Dementsprechend muss der Vorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung vorliegen (…). Fasst der Täter den Vorsatz erst später (dolus subsequens), kommt eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat nicht in Betracht (…). Aus der Notwendigkeit, dass der Vorsatz bei Begehung der Tat vorliegen muss, folgt, dass sich wegen eines vorsätzlichen Delikts nur strafbar macht, wer ab Entstehen des Tatentschlusses noch eine Handlung vornimmt, die in der vorgestellten oder für möglich gehaltenen Weise den tatbestandlichen Erfolg – … – herbeiführt.“
Unbeachtlich ist nicht nur der erst später gefasste Vorsatz (dolus subsequens), sondern auch ein vor der Tat gefasster (dolus antecedens). Allerdings reicht es aus, wenn der schon im Versuchsstadium – und damit „bei Begehung der Tat“ – vorhandene Vorsatz nicht bis zur Vollendung „durchgehalten“ wird.
Beispiel: Wegen Totschlags (§ 212 StGB) oder Mordes (§ 211 StGB) kann auch bestraft werden, wer nach der todesursächlichen Handlung den Tötungsvorsatz aufgibt und/oder sich erfolglos bemüht, den Erfolgseintritt zu verhindern (vgl. § 24 I 1 Alt. 2 StGB).
Vorsatzformen
Man unterscheidet drei Vorsatzformen: Absicht (dolus directus 1. Grades), Wissentlichkeit (dolus directus 2. Grades) und Eventualvorsatz (dolus eventualis).8
Bei der Absicht kommt es dem Täter im Sinne zielgerichteten Handelns darauf an, den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen. Auf kognitiver Ebene reicht die Vorstellung, es könne zur Erfüllung des Tatbestandes kommen.
Beispiel: T will den O mit einem Steinwurf verletzen, kalkuliert dabei wegen der Entfernung aber einen Fehlwurf ein. T handelt gleichwohl mit Verletzungs_absicht_.
Nicht mit der Absicht als Vorsatzform zu verwechseln sind Absichtsmerkmale, bei denen es sich um über den allgemeinen Vorsatz hinausgehende besondere subjektive Tatbestandsmerkmale handelt. Beispiele: Zueignungsabsicht i.S.v. § 242 StGB, Bereicherungsabsicht i.S.v. § 263 StGB.
Bei der Wissentlichkeit sieht der Täter sicher voraus, dass sein Handeln den Tatbestand verwirklichen wird. Auf voluntativer Ebene macht es keinen (entscheidenden) Unterschied, ob der Täter das Geschehen wünscht oder sich nur mit ihm abfindet. Denn weil er trotz sicher gehaltener Tatbestandsverwirklichung an seinem Handlungswillen festhält, nimmt er die Folge zwangsläufig mit in seinen Willen auf.
Beispiel: T will die O mit einem Sprengstoffsatz in deren Auto töten. T weiß, dass die O den Sprengstoffsatz am nächsten Morgen zünden wird, wenn sie ihren Sohn (S) zur Schule fährt. Dass S ebenfalls sterben wird, tut dem T leid. Den Tod der O führt T absichtlich (mit dolus directus 1. Grades) herbei, den Tod des S wissentlich (mit dolus directus 2. Grades).
Beim Eventualvorsatz hält der Täter die Tatbestandsverwirklichung für möglich und nimmt den Erfolgseintritt billigend in Kauf.
Beispiel: Hält T im vorigen Beispiel die Verletzung bzw. den Tod von Passanten infolge der Explosion des Autos für möglich und lässt er sich hierdurch gleichwohl nicht von seinem Handeln abhalten, handelt er insoweit mit Eventualvorsatz.
Die Unterscheidung der Vorsatzformen ist von nur untergeordneter Bedeutung, wenn das Gesetz schlicht vorsätzliches Handeln genügen lässt (§ 15 StGB). Bedeutung erlangt die Unterscheidung hingegen, wenn nur besondere Vorsatzformen tatbestandsmäßig sind.
Beispiele: § 145 StGB setzt ein „absichtliches oder wissentliches“ Handeln des Täters voraus. Gleiches gilt für den Tatbestand des § 258 StGB. In beiden Fällen ist der Eventualvorsatz ausgeklammert. Teilweise wird auch ein Handeln „wider besseren Wissens“, also (mindestens) Wissentlichkeit (oder sogar Absicht) vorausgesetzt, so etwa in den Fällen der §§ 145d, 164, 187 StGB).
- Oder präziser: „Wissen um die und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 5.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 41 f.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 2 – 4, 55 – 62.
- Mit der „Tat“ ist der Zeitraum ab dem Überschreiten der Versuchsschwelle (§ 22 StGB) bis zur Vollendung gemeint (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 55).
- em>Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 2 – 4, 37 – 40.
- BGH, Urt. v. 01.03.2018 – 4 StR 399/17, Rn. 13 (Berliner „Raser-Fall“).
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 6 – 16.