Der Verbotsirrtum
Der Verbotsirrtum (§ 17 StGB)
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte (§ 17 S. 1 StGB). Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 I StGB gemildert werden (§ 17 S. 2 StGB).
Grundlagen
Bei der Schuld geht es um die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat im Sinne eines „Dafürkönnens“. Aus § 17 StGB folgt, dass das Unrechtsbewusstsein ein selbständiges Schuldelement ist, das strikt vom Vorsatz zu trennen ist.1
Der im Verbotsirrtum Handelnde hat – anders als der vorsatzlose Täter – volle Kenntnis des Sachverhalts, der unter die Tatbestandsmerkmale subsumiert werden kann; er irrt lediglich über das Verbotensein seines Tuns.2
Ferner lässt sich aus der Norm ableiten, dass schuldhaftes Handeln kein aktuelles Unrechtsbewusstsein erfordert; fehlt dieses Bewusstsein, so genügt nach § 17 S. 1 StGB auch die Fähigkeit, es potentiell erlangen zu können (potentielles Unrechtsbewusstsein). Ist der Täter dazu in der Lage, liegt ein vermeidbarer Verbotsirrtum vor, bei dem allenfalls eine Strafmilderung nach § 17 S. 2 StGB in Betracht kommt.
Dass potentielles Unrechtsbewusstsein für den Schuldvorwurf ausreicht, hängt – jedenfalls für das Kernstrafrecht des StGB – mit der Appellfunktion des Tatbestandes zusammen: Wer vorsätzlich den objektiven Straftatbestand verwirklicht, hat hinreichenden Anlass, über die rechtliche Qualität seines Verhaltens nachzudenken oder sich hierüber zu informieren.
Fehlen des Unrechtsbewusstseins
§ 17 StGB setzt voraus, dass das Unrechtsbewusstsein fehlt.3 Ein Verbotsirrtum scheidet aus, wenn der Täter die Einsicht hat, Unrecht zu tun. Unrechtsbewusstsein bedeutet: „Der Täter weiß, dass das, was er tut, rechtlich nicht erlaubt, sondern verboten ist.“4
In einem Verbotsirrtum handelt der Täter also nur dann, wenn ihm die Einsicht fehlt, dass sein Tun gegen die durch verbindliches Recht erkennbare Werteordnung verstößt; ob der Täter glaubt, straf-, öffentlich- oder zivilrechtliche Normen zu verletzen, hat dabei grundsätzlich keine Bedeutung.5
Verbotsirrtümer können unterschiedlicher Ausprägung sein.6 Der Irrtum über die Existenz eines Verbots ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der Täter über das Verbotensein schlechthin irrt.
Beispiel: Der 17-jährige J und die fast 14-jährige M haben einvernehmlichen Geschlechtsverkehr miteinander. Von § 176 I StGB (sexueller Missbrauch von Kindern) hatte J noch nie etwas gehört.
Der Irrtum über die Existenz oder die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes (Erlaubnisirrtum) bezieht sich auf rechtliche Fehlwertungen im Rechtfertigungsbereich.
Beispiel: T glaubt, die Einwilligung des Opfers könne sich auch auf lebensgefährliche Körperverletzungen erstrecken.7
Einem Subsumtionsirrtum unterliegt, wer sich trotz Bedeutungskenntnis (Stichwort: Parallelwertung in der Laiensphäre) falsche Vorstellungen von der Einordnung seines Verhaltens unter den objektiven Tatbestand einer Strafnorm macht. Auch er kann einen Verbotsirrtum zur Folge haben.
Vermeidbarkeit des Irrtums
Ein Verbotsirrtum ist nur dann unvermeidbar, wenn er auch bei hinlänglicher Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können.8 Nach der Rechtsprechung ist ein Verbotsirrtum dann unvermeidbar, „… wenn der Täter trotz der ihm nach den Umständen des Falles, seiner Persönlichkeit sowie seines Lebens- und Berufskreises zuzumutenden Anspannung des Gewinnens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Handelns nicht zu gewinnen vermochte.9 Das setzt voraus, dass er alle geistigen Erkenntniskräfte eingesetzt und etwa aufkommende Zweifel durch Nachdenken oder erforderlichenfalls durch Einholung von Rat beseitigt hat.“10
Nach Auffassung des BGH ist der Vermeidbarkeitsmaßstab strenger als der Fahrlässigkeitsmaßstab.11 Wird dem Täter vorgeworfen, eine Erkundigungspflicht verletzt zu haben, muss allerdings auch festgestellt werden, dass ihm bei einer eingeholten Auskunft die verlässliche Person oder Stelle die richtige Rechtsauskunft erteilt hätte.12
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 31 Rn. 1.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 17 Rn. 1.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 31 Rn. 4 f.
- BGH, Urt. v. 18.03.1952 – GSSt 2/51, BGHSt 2, 194, 196.
- BGH, Urt. v. 30.05.2008 – 1 StR 166/07, Rn. 58.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 31 Rn. 11 – 14.
- BGH, Urt. v. 26.05.2004 – 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 176.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 17 Rn. 1.
- BGH, Urt. v. 04.09.2014 – 4 StR 473/13, Rn. 54.
- BGH, Urt. v. 15.12.1999 – 2 StR 365/99, NStZ 2000, 307, 309.
- BGH, Beschl. v. 27.01.1966 – KRB 2/65, BGHSt 21, 18, 20; BGH, Urt. v. 23.04.1953 – 3 StR 219/52, BGHSt 4, 236, 243; a. A. Nestler, Jura 2015, 570 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 21 Rn. 45.
- BGH, Urt. v. 07.04.2016 – 5 StR 332/15, Rn. 22; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 31 Rn. 26.