Der Tatbestandsirrtum
Der Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB)
Grundlagen
Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich (§ 16 I 1 StGB).
Der Tatbestandsirrtum ist das Gegenstück der Wissensseite des Vorsatzes.1 Wer einem solchen Irrtum unterliegt, weiß etwas nicht, was er wissen müsste, um sich Gedanken über das Verbotensein seines Tuns zu machen.2 Deshalb lässt ein solcher Irrtum das Handlungsunrecht des Vorsatzdeliktes entfallen.3
Unter einem Irrtum versteht man eine Fehlvorstellung.4 Beim Tatbestandsirrtum betrifft diese Fehlvorstellung zumindest einen objektiv vorliegenden „Umstand, … der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“ (§ 16 I 1 StGB).
Bei deskriptiven Tatbestandsmerkmalen reicht es aus, dass der Täter deren natürlichen Sinngehalt erfasst hat.5 Es genügt, dass der Täter diejenigen Tatumstände (Sachverhaltselemente) kennt, die unter das Tatbestandsmerkmal subsumiert werden. Die Verkennung des Sachverhaltselements lässt den Vorsatz entfallen, nicht aber die Verkennung der „Subsumierbarkeit“.
Beispiel: Wer einen Hund tötet, befindet sich in einem Subsumtionsirrtum, wenn er meint, Tiere seien rechtlich nicht als Sachen zu behandeln (vgl. § 90a BGB). Der Vorsatz zur Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) entfällt nicht. Denkbar ist allenfalls ein die Schuld ausschließender Verbotsirrtum.
Bei normativen Tatbestandsmerkmalen reicht die bloße Kenntnis der konkreten Sachverhaltselemente nicht.6 Es ist aber auch keine exakte juristische Bewertung erforderlich. Vielmehr genügt es, dass der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Tatumstandes richtig erfasst (sog. Parallelwertung in der Laiensphäre).7
Beispiel: Wer auf einer Eintrittskarte das Gültigkeitsdatum ändert, muss nicht alle Subsumtionsvorgänge des § 267 StGB richtig ableisten, um vorsätzlich eine echte Urkunde zu verfälschen. Es genügt, dass er sich der Beweiserheblichkeit des Datums und des Umstandes bewusst ist, dass er unter Vorlage der Urkunde täuschen wird. Meint er, eine Eintrittskarte könne keine Urkunde sein, unterliegt er einem bloßen Subsumtionsirrtum.
Ob der Tatbestandsirrtum vermeidbar ist, ist für die Anwendbarkeit des § 16 I 1 StGB und das Fehlen des Vorsatzes unerheblich.8 Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt allerdings unberührt (§ 16 I 2 StGB). Soweit der entsprechende Tatbestand auch fahrlässig realisiert werden kann, kommt demnach eine Bestrafung aus dem Fahrlässigkeitsdelikt in Betracht.
Beispiel: Wer nicht einmal laienhaft den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt einer körperlichen Misshandlung bzw. Gesundheitsschädigung erfasst und irrig glaubt, „Backpfeifen“ könnten den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 I StGB) nicht realisieren, kann gleichwohl wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) bestraft werden. Glaubt der Täter demgegenüber irrig, er beschädige keine „fremde“, sondern eine eigene Sache, bleibt er straffrei, weil nur die vorsätzliche Sachbeschädigung unter Strafe gestellt ist (§ 303 I StGB), nicht aber die fahrlässige Sachbeschädigung.
Glaubt der Täter an Sachverhaltselemente, die zur Anwendung eines milderen Tatbestandes führen, kann er nur wegen vorsätzlicher Begehung nach dem milderen Gesetz bestraft werden (§ 16 Abs. 2 StGB, Irrtum über privilegierende Tatbestandsmerkmale).
Beispiel:9 Glaubt T irrig, der schwerkranke O wünsche seinen Tod, und tötet er ihn daraufhin, scheidet eine Bestrafung wegen (vorsätzlichen) Totschlags nach § 212 StGB aus. Es kommt aber eine Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) in Betracht.
Irrtum über den Kausalverlauf
Der Kausalverlauf ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.10 Deshalb muss sich der Vorsatz auch auf den Kausalverlauf erstrecken. Weicht der tatsächliche Kausalverlauf von dem vorgestellten ab, kann ein Tatbestandsirrtum gemäß § 16 I 1 StGB vorliegen. Entscheidend dafür ist, ob eine relevante oder nur eine irrelevante Abweichung vorliegt. Dies ist eine Frage des Einzelfalls. Die genauen Kriterien für die Abgrenzung sind ungeklärt. Es handelt sich letztlich um einen Wertungsakt.
Einen Sonderfall des Irrtums über den Kausalverlauf bilden die dolus generalis-Konstellationen.11 Damit sind insbesondere Fälle gemeint, in denen der Täter glaubt, sein Opfer schon durch eine Ersthandlung getötet zu haben, es in Wirklichkeit aber erst durch eine Zweithandlung tötet. Klassisches Beispiel hierfür ist der Jauchegruben-Fall.12 Dort glaubte die Täterin (T) ihr Opfer (O) bereits erwürgt zu haben, als sie beschloss, die in Wirklichkeit nur bewusstlose O in eine Jauchegrube zu werfen, in der sie ertrank. Teilweise wird hierzu die Auffassung vertreten, der erste Teilakt sei als – mit den §§ 223, 224 StGB ideal konkurrierender – versuchter Totschlag (Mord) zu bestrafen, der mit einer fahrlässigen Tötung im zweiten Teilakt in Tatmehrheit stehe (Versuchslösung).13 Die h. M. kommt demgegenüber mit Hilfe der Lehre des Irrtums über den Kausalverlauf zur Bejahung einer vollendeten Tat (Vollendungslösung).14 Anzuknüpfen sei an den bei der Ersthandlung vorliegenden Tötungsvorsatz; die todesursächliche Zweithandlung stelle eine nur unwesentliche Abweichung zwischen vorgestelltem und tatsächlichem Kausalverlauf dar.
Error in persona vel objecto
Beim error in persona vel objecto, also beim Irrtum über die Person oder das Objekt bzw. die Sache, irrt sich der Täter über die Identität der konkret individualisierten Person oder Sache.15
Beispiel: D will ein Bild von Monet stehlen, verliest sich aber und nimmt ein Bild von Manet mit.
Diese Fehlvorstellung ist angesichts der Gleichwertigkeit der Objekte16 für den Vorsatz unbedeutend, weil sich der Vorsatz nur auf das gesetzliche Tatbestandsmerkmal (im Beispiel: „fremde bewegliche Sache“, § 242 StGB) erstrecken muss. Die Fehlvorstellung über die Identität bleibt als bloßer Motivirrtum unbeachtlich.
Aberratio ictus
Die Fälle der aberratio ictus sind dadurch gekennzeichnet, dass der Täter als Ziel seiner Tat ein konkretes Objekt anvisiert, der Erfolg aber versehentlich bei einem anderen gleichwertigen Objekt eintritt.17
Beispiel: T will A mit einem Steinwurf verletzen, trifft aber den in der Nähe stehenden B.
Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, T sei wegen der Gleichwertigkeit der Objekte wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 I Nr. 2 StGB) zu bestrafen.18 Die h. M. folgt dem nicht und bestraft T hinsichtlich des getroffenen Objekts wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) und wegen des anvisierten Handlungsobjekts nur wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 I Nr. 2, 22 StGB);19 dies verdient Zustimmung, weil sich der Vorsatz immer auf eine konkrete Wirklichkeit und niemals bloß abstrakt auf ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal bezieht.20
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 14.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 13.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 1.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 15 Rn. 2.
- Hier und zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 15.
- Hier und zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 16.
- BGH, Urt. v. 28.10.1952 – 1 StR 450/52, BGHSt 3, 248; BGH, Urt. v. 24.09.1953 – 5 StR 225/53, BGHSt 4, 347; BGH, Urt. v. 08.11.1955 – 5 StR 348/55, BGHSt 8, 321; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 15 Rn. 4.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 13: „Es gibt keinen Tatbestand der Rechtsblindheit.“
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 25.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 15 Rn. 11 – 20.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 15 Rn. 51 – 65.
- BGH, Urt. v. 26.04.1960 – 5 StR 77/60, BGHSt 14, 193 ff.
- Hettinger, GA 2006, 289 ff.; Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 422 ff.; Noltensmeier/Henn, JA 2007, 773 ff.
- BGH, Urt. v. 26.04.1960 – 5 StR 77/60, BGHSt 14, 193 ff.; vgl. auch BGH, Urt. v. 12.02.1992 – 3 StR 481/91, NStZ 1992, 333, 335; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 58.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 15 Rn. 21 – 26.
- Fälle, in denen das konkret angegriffene und das verwechselte Objekt nicht gleichwertig sind, haben hingegen mit einem error in persona vel objecto überhaupt nichts tun und sind selbstverständlich vorsatzrelevant.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 15 Rn. 27 – 38.
- Sog. Gleichwertigkeitstheorie (Hechemer, JA 2005, 275 ff.).
- Sog. Konkretisierungstheorie (BGH, Urt. v. 10.04.1986 – 4 StR 89/86, BGHSt 34, 53, 55; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019 § 15 Rn. 57).
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 15 Rn. 34.