Der Gläubigerverzug
Der Gläubigerverzug (§§ 293 ff. BGB)
Die Erfüllung einer Verbindlichkeit kann auch durch das Verhalten des Gläubigers gestört sein. Das gilt dann, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, seine Leistung ohne Mitwirkung des Gläubigers zu erbringen.1
Beispiel: Der Verkäufer kann seine Pflicht aus § 433 I 1 BGB zur Übergabe und Übereignung der Kaufsache nur erfüllen, wenn der Käufer die Sache entgegennimmt und sich mit dem Verkäufer über den Eigentumsübergang einigt (§ 929 S. 1 BGB).
Der Gläubiger ist aber grundsätzlich2 nicht zur Mitwirkung verpflichtet. Der Schuldner hat keinen klagbaren Anspruch auf Mitwirkung, dessen Verletzung Schadensersatzansprüche auslösen könnte. Die unterlassene Mitwirkung befreit den Schuldner auch nicht von seiner Leistungspflicht.
Im Gegensatz zum Schuldnerverzug (§ 286 BGB) ist der Gläubigerverzug eine Obliegenheitsverletzung.3 Er setzt weder eine Pflichtverletzung des Gläubigers noch ein Vertretenmüssen voraus.
Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Gläubigerverzugs sind in den §§ 293 ff. BGB geregelt.
Voraussetzungen des Gläubigerverzugs
Gläubigerverzug (Annahmeverzug) ist die Nichtannahme der ordnungsgemäß angebotenen, noch möglichen Leistung durch den Gläubiger.4 Er hat folgende Voraussetzungen:5
Prüfungsschema: Voraussetzungen des Gläubigerverzugs gemäß §§ 293 ff. BGB
(1) Leistungsberechtigung
(2) Möglichkeit der Leistung
(3) Leistungsangebot
(4) Nichtannahme der Leistung oder Verweigerung der Gegenleistung
Der Schuldner muss zur Leistung berechtigt sein. Die Leistung muss erfüllbar sein.
Die Erfüllbarkeit liegt im Zweifel sofort vor (§ 271 II BGB). Eine Sonderregelung enthält § 299 BGB: Ist die Leistungszeit unbestimmt oder der Schuldner zu vorzeitiger Leistung berechtigt, kommt der Gläubiger durch eine bloß vorübergehende Annahmeverhinderung nicht in Verzug, wenn der Schuldner ihm die Leistung nicht angemessene Zeit vorher angekündigt hat, denn eine dauernde Annahmebereitschaft ist dem Gläubiger nicht zuzumuten.
Der Schuldner muss ferner zur Leistung bereit und imstande sein (§ 297 BGB). Kann er zeitweilig oder endgültig nicht leisten, scheidet ein Gläubigerverzug aus.6 Wird die Leistung erst unmöglich, nachdem der Gläubiger in Annahmeverzug geraten ist, endet der Gläubigerverzug mit dem Eintritt der Unmöglichkeit.
Beim tatsächlichen Angebot (§ 294 BGB) folgt der Umstand, dass der Schuldner zur Leistung imstande sein muss, aus der Natur der Sache; er kann sie schließlich nicht anbieten, wenn er sie nicht hat. Aber auch wo ein wörtliches Angebot genügt (§ 295 BGB) oder das Angebot sogar entbehrlich ist (§ 296 BGB), muss dem Schuldner die Leistung nach § 297 BGB möglich sein.
Regelmäßig ist ein Angebot der Leistung durch den Gläubiger erforderlich (§ 293 BGB). Normalerweise muss der Schuldner dem Gläubiger die Leistung so, wie sie zu bewirken ist, tatsächlich angeboten haben (§ 294 BGB), d. h. am rechten Ort und zur rechten Zeit, vollständig und in rechter Beschaffenheit.
Das Leistungsangebot des Schuldners muss so beschaffen sein, dass der Gläubiger nichts weiter zu tun braucht, als zuzugreifen und die ihm angebotene Leistung anzunehmen.7 Bei § 294 BGB hat das Gesetz eine Bring- oder Schickschuld vor Augen, weil die Holschuld in § 295 BGB noch besonders erwähnt wird. Bei der Bringschuld muss der Schuldner die Sache zum Gläubiger transportieren. Bei der Schickschuld genügt nicht schon die Absendung, sondern die Sache muss beim Gläubiger ankommen; Verzögerungen auf dem Transport bewirken keinen Annahmeverzug.
Ausnahmsweise genügt ein wörtliches Angebot (§ 295 BGB). Das ist dann der Fall, wenn der Gläubiger bereits vorher erklärt hat, die Leistung nicht anzunehmen (§ 295 S. 1 Alt. 1 BGB),8 oder wenn zur Bewirkung der Leistung eine Handlung des Gläubigers erforderlich ist, insbesondere wenn der Gläubiger die geschuldete Sache abzuholen hat (§ 295 S. 1 Alt. 2 BGB). In diesen Fällen steht es dem wörtlichen Angebot gleich, wenn der Schuldner den Gläubiger auffordert, die Mitwirkungshandlung vorzunehmen (§ 295 S. 2 BGB).
Beispiel: Der Schneider fordert seinen Kunden nach Anfertigung eines Maßanzugs dazu auf, zur Anprobe zu erscheinen.
Das wörtliche Angebot ist entbehrlich, wenn der Gläubiger seine Mitwirkungshandlung zu einem bestimmten Zeitpunkt vorzunehmen hat und diese unterbleibt (§ 296 BGB).9
Beispiel: G beauftragt S, ein Bauwerk zu errichten. Das Baumaterial soll G selbst beschaffen, was ihm aber zum vereinbarten Termin nicht gelingt. S braucht dem G seine Arbeit dann nicht anzubieten, solange G seine Mitwirkungshandlung (Beschaffung des Baumaterials) nicht vorgenommen hat (§ 296 S. 1 BGB).
Der Annahmeverzug setzt schließlich voraus, dass der Gläubiger das Leistungsangebot des Schuldners nicht angenommen oder die nötige Mitwirkungshandlung nicht vorgenommen hat (§ 293 BGB). Er gerät ebenfalls in Annahmeverzug, wenn er zwar die Leistung annehmen, die geforderte und fällige Gegenleistung aber nicht erbringen will (§ 298 BGB).10
Auf ein Verschulden des Gläubigers kommt es – anders als beim Schuldnerverzug (§ 286 IV BGB) – nicht an.
Rechtsfolgen des Gläubigerverzugs
Der Gläubigerverzug führt – ebenso wie der Schuldnerverzug (§ 286 BGB) – grundsätzlich11 nicht zur Befreiung des Schuldners von der Leistungspflicht. 12 Der Leistungsinhalt wird auch nicht modifiziert.
Der Schuldner braucht aber nur noch eine geringere Sorgfalt für die Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit anzuwenden: Während des Gläubigerverzugs hat er nur noch Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten (§ 300 I BGB).13
Bei Gattungsschulden geht mit dem Gläubigerverzug „die Gefahr auf den Gläubiger über“ (§ 300 II BGB); damit ist die Leistungsgefahr gemeint. Eine Regelung für die Leistungsgefahr enthält bei der Gattungsschuld indes bereits § 243 II BGB (Übergang der Leistungsgefahr mit der Konkretisierung). Deshalb erlangt § 300 II BGB neben § 243 II BGB nur dann Bedeutung, wenn der Schuldner bei einer Bring- oder Schickschuld durch ein wörtliches Angebot (§ 295 S. 1 BGB) den Annahmeverzug herbeigeführt hat, ohne nach § 243 II BGB alles zur Leistung seinerseits Erforderliche getan zu haben, und im Falle einer Geldschuld, auf die § 270 I BGB keine Anwendung findet, wohl aber § 300 II BGB (analog). Bei gegenseitigen Verträgen geht nach §§ 326 II 1 Alt. 2, 323 VI Alt. 2 BGB auch die Gegenleistungsgefahr auf den Gläubiger über: Geht der Leistungsgegenstand während des Annahmeverzugs unter, ohne dass der Schuldner dies zu vertreten hat, bleibt sein Anspruch auf die Gegenleistung nach Maßgabe des § 326 II 1 Alt. 2 BGB (Anrechnung ersparter Aufwendungen) erhalten.
Während des Annahmeverzugs braucht der Schuldner eine Geldschuld nicht zu verzinsen (§ 301 BGB). Ist die Herausgabe oder der Ersatz von Nutzungen geschuldet, haftet der Schuldner nur noch wegen tatsächlich gezogenen Nutzungen (§ 302 BGB). Ist die Herausgabe eines Grundstücks oder eines eingetragenen Schiffes geschuldet, darf der Schuldner nach vorheriger Androhung den Besitz aufgeben (§ 303 BGB). Ferner kann der Schuldner den Ersatz von Mehraufwendungen verlangen, die er für das erfolglose Angebot und die Aufbewahrung und Erhaltung des Schuldgegenstandes machen musste (§ 304 BGB).14 Der Schuldner ist ferner zur Hinterlegung einer Sache berechtigt (§ 372 S. 1 BGB;).
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 26 Rn. 1 f.
- Ausnahmen: §§ 433 II, 640 I BGB.
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 544.
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 544.
- Zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 26 Rn. 3 – 10; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 546 – 552.
- Dann greifen die Regeln über die Unmöglichkeit ein (§§ 275, 280, 283, 326 BGB).
- BGH, Beschl. v. 05.10.2010 – IV ZR 30/10, Rn. 9.
- Parallel hierzu greift beim Schuldnerverzug die Vorschrift des § 286 II Nr. 3 BGB.
- Parallel hierzu greifen beim Schuldnerverzug die Vorschriften des § 286 II Nr. 1 u. 2 BGB.
- Siehe hierzu den Fall: „Gefahrtragung bei Annahmeverzug“.
- Einen Sonderfall enthält § 615 S. 1 BGB: Der Dienstverpflichtete kann bei Annahmeverzugs des Dienstberechtigten für nicht geleistete Arbeit die Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein.
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 26 Rn. 11 – 16; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 553 – 558.
- Nach h. M. gilt diese Haftungserleichterung allerdings nur für die Verletzung von Leistungspflichten, nicht hingegen bei der Verletzung von Nebenpflichten i.S.v. § 241 II BGB (Grunewald, FS Canaris (2007), 329, 332.
- § 304 BGB ist eine Anspruchsgrundlage (Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 304 Rn. 1).