Der Erlaubnistatbestandsirrtum
Der Erlaubnistatbestandsirrtum
Unter einem Irrtum versteht man eine Fehlvorstellung von der Wirklichkeit.1 Ein Irrtum, der sich auf für objektive Tatbestandsmerkmale relevante tatsächliche Umstände bezieht, schließt den Vorsatz aus und ist dementsprechend im subjektiven Tatbestand zu prüfen. Stellt sich der Täter hingegen einen Rechtfertigungsgrund zugrunde liegende tatsächliche Umstände vor, spricht man von einem Erlaubnistatbestandsirrtum; ein solcher Irrtum ist im Rahmen der Rechtswidrigkeit zu prüfen und schließt nach h. M. ebenfalls die Bestrafung aus dem Vorsatzdelikt aus. Im Bereich der Schuld sind Irrtümer regelmäßig unbedeutend; ein Verbotsirrtum ist dann anzusprechen, wenn der Täter glaubt, sich nicht strafbar zu machen, und ihm deshalb das aktuelle Unrechtsbewusstsein fehlt.2
Irrt der Täter über die Existenz eines nicht bestehenden oder über die Grenzen eines bestehenden Rechtfertigungsgrundes, spricht man von einem Erlaubnisirrtum. In beiden Fällen führt der Irrtum nur zum Fehlen des Unrechtsbewusstseins und damit zur Anwendung der – die Strafbarkeit i.d.R. nicht ausschließenden – Verbotsirrtumsregeln.
Grundlagen der Fallbearbeitung
Beim Erlaubnistatbestandsirrtum stellt sich der Täter einen Sachverhalt vor, der, wenn er vorläge, ihn rechtfertigen würde.3 In der Fallbearbeitung muss man zunächst eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat feststellen und sodann prüfen, ob auf der Grundlage der irrtümlich vorgestellten tatsächlichen Umstände ein Rechtfertigungsgrund eingreifen würde. Ergibt die Prüfung, dass die Tat auf der Basis dieses hypothetischen Sachverhalts nicht gerechtfertigt ist, liegt kein Erlaubnistatbestandsirrtum vor; in Betracht kommt dann allenfalls ein Verbotsirrtum. Ist dagegen ein Erlaubnistatbestandsirrtum zu bejahen, stellt sich die Frage nach seiner Rechtsfolge. Diese Frage ist hoch umstritten (dazu gleich). Lehnt man mit der h. M. die Bestrafung des sich irrenden Täters aus dem Vorsatzdelikt ab, kommt ggf. noch eine – separat zu prüfende – Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht.
Der Erlaubnistatbestandsirrtum lässt sich in der Falllösung an unterschiedlichen Stellen verorten. Vorzugswürdig ist es, ihn unter der neutralen Überschrift „Erlaubnistatbestandsirrtum“ nach Bejahung der Rechtswidrigkeit und vor der Schuld zu prüfen.4
Der Streitstand
Welche Rechtsfolgen ein Erlaubnistatbestandsirrtum auslöst, ist umstritten. Hintergrund dieses Streits ist ein unterschiedliches Verständnis des Zusammenspiels von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld.5
Ausgangspunkt der Überlegung ist § 17 StGB als Ausprägung der Schuldtheorie.6 Nach der Schuldtheorie muss dem Täter die Rechtswidrigkeit seines Tuns nicht aktuell bewusst sein. Es genügt, dass er das Unrecht seines Tuns hätte erkennen können (potentielle Unrechtseinsicht).
Die strenge Schuldtheorie hält an der Trennung von Vorsatz und Unrechtsbewusstsein konsequent fest, auch für die Fälle des Erlaubnistatbestandsirrtums. Sie wendet „streng“ die Verbotsirrtumsregeln an. Ist der Erlaubnistatbestandsirrtum vermeidbar, sei der Täter aus dem Vorsatzdelikt zu bestrafen.7
Gegen die strenge Schuldtheorie spricht, dass ein Täter, der sich die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes vorstellt, an sich rechtstreu verhalten will.8 Er dehnt nicht durch rechtliche Fehlwertungen die Rechtsordnung zu seinen Gunsten aus, sondern glaubt wegen Fehlvorstellungen im tatsächlichen Bereich, sich rechtmäßig zu verhalten. Der Erlaubnistatbestandsirrtum steht deshalb strukturell einem Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) deutlich näher als einem Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Deshalb muss die Schuldtheorie „eingeschränkt“ werden.9
Im Ergebnis besteht nach ganz h. M. Einigkeit darüber, dass bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum keine Bestrafung aus dem Vorsatzdelikt erfolgt. Umstritten ist nur die dogmatische Begründung.10
Nach der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen gehört zum objektiven Tatbestand auch die Feststellung, dass kein Rechtfertigungsgrund eingreift. Die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen sind danach negative Merkmale des objektiven Tatbestandes. Dies hat zur Folge, dass die objektiven Tatbestandsmerkmale zusammen mit den objektiven Rechtfertigungsmerkmalen einen Gesamtunrechtstatbestand bilden, auf den sich insgesamt der Vorsatz erstrecken muss. Stellt sich der Täter irrtümlich einen rechtfertigenden Sachverhalt vor, ist demnach der Vorsatz unmittelbar gemäß § 16 I 1 StGB zu verneinen, weil der Täter das Vorhandensein rechtfertigender tatsächlicher Umstände annimmt.11
Die vorsatzunrechtverneinende eingeschränkte Schuldtheorie betont die Nähe des Erlaubnistabestandsirrtums zum Tatbestandsirrtum und wendet § 16 I 1 StGB analog an.12
Die vorsatzschuldverneinende eingeschränkte Schuldtheorie lässt den Tatbestandsvorsatz und das Unrecht der Vorsatztat unangetastet, erhebt aber dennoch gegen den Täter keinen Schuldvorwurf und hält als Rechtsfolge lediglich eine Bestrafung aus dem Fahrlässigkeitsdelikt für möglich. Begründet wird dies damit, dass der Vorsatz auch als „Schuldvorsatz“ existiere. Den Vorsatztäter treffe in der Regel eine höhere Schuld als den Fahrlässigkeitstäter. Beim Erlaubnistatbestandsirrtum sei der Schuldvorsatz zu verneinen, wiederum in analoger Anwendung des § 16 I 1 StGB, weil dieser ausdrücklich nur den Tatbestandsirrtum regele.13
Der BGH hatte bislang noch keinen Anlass, sich abschließend zwischen der vorsatzunrecht- und der vorsatzschuldverneinenden eingeschränkten Schuldtheorie zu entscheiden. Meist argumentiert er im Sinne der vorsatzunrechtverneinenden Variante,14 teilweise aber auch im Sinne der vorsatzschuldverneinenden.15
Für den Täter selbst macht es im Ergebnis keinen Unterschied, mit welcher dogmatischen Begründung man seine Strafbarkeit aus dem Vorsatzdelikt gemäß § 16 I 1 StGB (analog) verneint. Relevant wird dies nur für Beteiligte. Folgt man der vorsatzschuldverneinenden eingeschränkten Schuldtheorie, liegt eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat vor, die eine Erfassung bösgläubiger Teilnehmer (§§ 26, 27 StGB) ermöglicht. Die Auswirkungen des Streits werden bei der Beihilfe dargestellt.
Kommt eine Teilnahme nicht in Betracht, ist in der Fallbearbeitung nur die strenge Schuldtheorie abzulehnen; im Übrigen muss der Theorienstreit nicht entschieden werden. Nur wenn es auf eine teilnahmefähige rechtswidrige Haupttat ankommt, bedarf es eines abschließenden Streitentscheids.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 30 Rn. 1 – 11.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 50; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 30 Rn. 11.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 33.
- Hier und zum Folgenden: Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 36. Die Vorsatztheorie, nach der der Vorsatz ein Schuldmerkmal ist, wird heute wegen § 17 StGB nicht mehr vertreten; sie braucht in der Fallbearbeitung nicht mehr berücksichtigt zu werden (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 30 Rn. 14).
- Erb, FS Paeffgen, 2015, S. 205 ff.; NK/Paeffgen/Zabel, 5. Aufl. 2017, Vor § 32 Rn. 103 ff.
- BGH, Urt. v. 06.06.1952 – 1 StR 708/51, BGHSt 3, 105, 107.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 30 Rn. 16.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 30 Rn. 17 – 23.
- Schünemann/Greco, GA 2006, 777 ff.
- Becker, JuS 2019, 513, 517; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 16 Rn. 17 f.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 30 Rn. 22; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 755 ff.
- BGH, Urt. v. 27.10.2015 – 3 StR 199/15, Rn. 12; BGH, Beschl. v. 21.08.2013 – 1 StR 449/13, Rn. 9; BGH, Urt. v. 04.10.1999 – 5 StR 712/98, BGHSt 45, 219, 224 f.; BGH, Urt. v. 10.03.1983 – 4 StR 375/82, BGHSt 31, 264, 286 f.
- BGH, Urt. v. 02.11.2011 – 2 StR 375/11,Rn. 21: „Ausschluss der Vorsatzschuld“.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 29 Rn. 1 – 6.
- Während der Verbotsirrtum auf Bewertungsfehlern beruht, ist der Erlaubnistatbestandsirrtum auf Wahrnehmungsmängel zurückzuführen (Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 32).