Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt
Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt
Unterlassungsstraftaten lassen sich in echte und unechte Unterlassungsdelikte einteilen. Echte Unterlassungsdelikte sind Straftaten, bei denen das Gesetz eine Gebotsnorm aufstellt und sich das Unterlassen des Täters im Verstoß gegen diese Gebotsnorm erschöpft.1 Eine Erfolgsabwendungspflicht besteht bei ihnen nicht; sie stellen das Gegenstück zu schlichten Tätigkeitsdelikten dar.
Beispiele: Sich nicht entfernen i.S.v. § 123 I Var. 2 StGB; Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB); Nichtverweilen am Unfallort (§ 142 II StGB); Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen (§ 266a I StGB); Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c I StGB). Die Darstellung dieser Tatbestände erfolgt im Besonderen Teil.
Im Gegensatz dazu sind unechte Unterlassungsdelikte Straftaten, bei denen vom Täter verlangt wird, einen bestimmten Erfolg abzuwenden.2 Unterlässt der Täter die Erfolgsabwendung, macht er sich aus § 13 StGB i. V. m. dem einschlägigen Tatbestand des Besonderen Teils strafbar.
Unter den Voraussetzungen des § 13 I StGB wird ein Begehungsdelikt in ein unechtes Unterlassungsdelikt umfunktioniert.3 Das setzt voraus, dass (1) der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Taterfolg nicht eintritt (Garantenstellung),4 und (2) die Nichtvornahme der gebotenen Handlung der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein aktives Tun wertungsmäßig entspricht (Entsprechungsklausel).5
Prüfungsschema: Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt (Erfolgsdelikt)6
I. Tatbestandsmäßigkeit
- Objektiver Tatbestand
- a) Vorliegen der objektiven Tatbestandsmerkmale eines Erfolgsdelikts
- b) Erfolgseintritt durch Nichtvornahme einer gebotenen Handlung (Abgrenzung Tun/Unterlassen)
- c) Möglichkeit zur Vornahme der objektiv gebotenen Handlung
- d) (Hypothetische) Kausalität und objektive Zurechnung
- e) Rechtspflicht zum Handeln (Garantenstellung)
- f) Gleichstellung der unterlassenen Handlung mit aktivem Tun (Entsprechungsklausel)
- Subjektiver Tatbestand
- a) Vorsatz bzgl. aller Merkmale des objektiven Tatbestandes
- b) Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale
II. Rechtswidrigkeit7
III. Schuld8
Objektiver Tatbestand
Es müssen zunächst die objektiven Tatbestandsmerkmale eines Erfolgsdelikts9 vorliegen. Ist der Erfolg nicht eingetreten, kommt allenfalls eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht.10
Der tatbestandliche Erfolg muss durch die Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung objektiv gebotenen Handlung realisiert worden sein.
An dieser Stelle kann eine Abgrenzung zwischen (aktivem) Tun und (passivem) Unterlassen erforderlich sein.11 Während ein Teil der Literatur darauf abstellt, ob der Täter mit seinem Verhalten einen Erfolg im Sinne der Kausalitätslehre verursacht hat oder Energie einsetzte,12 fasst die h. M. die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen als Wertungsfrage auf, die nicht nach rein äußeren oder formalen Kriterien zu entscheiden ist, sondern eine wertende (normative) Betrachtung unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns verlangt; maßgeblich sei insofern, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liege.13
Die rechtlich geforderte Handlung muss dem Unterlassungstäter physisch-real und rechtlich möglich sein.14
Hat sich der Täter vorsätzlich in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit versetzt und konnte er deshalb später seine Pflichten als Garant nicht mehr erfüllen, kann er sich auf seine Handlungsunfähigkeit nicht berufen (Rechtsfigur der omissio libera in causa).15 Beispiel:16 Ein Rettungsschwimmer T betrinkt sich im Dienst so, dass ihm ein rettendes Eingreifen unmöglich wird, was ihm egal ist. Später ertrinkt O, weil er infolge einer Gegenströmung das rettende Ufer nicht mehr erreichen kann. Die zum Tatzeitpunkt fehlende Handlungsfähigkeit des T wird mithilfe der omissio libera in causa auf den Zeitpunkt des Trinkens vorverlegt, sodass T, der die tödliche Folge in Kauf genommen hat, gemäß §§ 212, 13 StGB strafbar ist.
Zwischen dem Unterlassen der gebotenen Handlung und dem Erfolgseintritt muss ein Kausal- und Zurechnungszusammenhang bestehen.17
Da eine hypothetische Betrachtungsweise angezeigt ist, spricht man in diesem Zusammenhang von einer „hypothetischen Kausalität“. Es ist zu fragen, ob durch die Vornahme der gebotenen Handlung der tatbestandliche Erfolg in seiner konkreten Gestalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre.18 Dabei gilt der Grundsatz in dubio pro reo.19
Objektiv zurechenbar ist der Erfolg, wenn sich in ihm die Gefahr realisiert, die der Täter durch die pflichtwidrige Unterlassung der gebotenen Rettungshandlung geschaffen hat.20 Fehlt die hypothetische Kausalität oder die objektive Zurechnung, scheidet eine Vollendung des vorsätzlichen Unterlassungsdelikts aus und es kommt allenfalls eine Versuchsstrafbarkeit („Versuch durch Unterlassen“) in Betracht.21
Ein Begehen durch Unterlassen ist nach § 13 I StGB nur dann strafbar, wenn der Täter „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“ (sog. Garantenstellung;).22
Dem Täter können besondere Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter (Beschützergarantien) oder die Verantwortung für bestimmte Gefahrenquellen (Überwachungsgarantien) obliegen.
§ 13 I StGB verlangt neben der Garantenstellung des Täters, dass „das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht“ (sog. Entsprechungsklausel).23
Bei reinen Erfolgsdelikten entspricht die Verwirklichung durch ein Unterlassen ohne Weiteres der Verwirklichung durch ein Tun. In der Fallbearbeitung ist nur kurz (ohne Begründung) festzustellen, dass die Nichtabwendung des tatbestandlichen Erfolgs durch einen Garanten stets der aktiven Erfolgsherbeiführung entspricht.
Bedeutsam ist die Entsprechungsklausel hingegen bei verhaltensgebundenen Delikten. Das sind Delikte, bei denen es nicht genügt, dass der Taterfolg eintritt; sie setzen vielmehr eine Bewirkung des Erfolgs durch eine besondere Handlungsweise voraus. Beispiele: Heimtücke und Grausamkeit (§ 211 StGB), hinterlistiger Überfall (§ 224 I Nr. 3 StGB), Gewalt und Drohung (§ 240 StGB), Täuschung (§ 263 StGB). In solchen Fällen muss das Unterlassen dem aktiven Tun entsprechen.
Subjektiver Tatbestand
Der subjektive Tatbestand des vorsätzlichen Unterlassungsdelikts umfasst zunächst den Vorsatz.24 Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale erstrecken. Soweit beim Begehungsdelikt dolus eventualis ausreicht, gilt dies auch für das Unterlassen.
Vorsätzliches Unterlassen ist die Entscheidung zwischen pflichtwidrigem Untätigbleiben und pflichtgemäßem Tun.25 Wer es für möglich hält und sich damit abfindet, dass er als Garant durch eine ihm mögliche Rettungshandlung den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs hätte verhindern können, handelt mit „Unterlassungsvorsatz“. Dabei muss der Täter lediglich die Umstände kennen, die seine Garantenstellung begründen.26 Ein Irrtum über das Bestehen oder die Reichweite einer Garantenpflicht begründet keinen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum (§ 16 I 1 StGB;), sondern nur einen bei der Schuld zu prüfenden, dem Verbotsirrtum (§ 17 StGB) entsprechenden Gebotsirrtum; die Erfolgsabwendungspflicht betrifft nämlich die Gesamtbewertung der Tat und damit deren Rechtswidrigkeit.27 Das Bewusstsein des Täters braucht sich ferner nicht darauf zu erstrecken, den Erfolg „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ verhindern zu können.
Etwaige deliktsspezifische besondere subjektive Tatbestandsmerkmale müssen von dem Vorsatz des Unterlassungstäters ebenfalls umfasst sein.
Fehlt der Vorsatz, kommt ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt in Betracht. Auch Fahrlässigkeitsdelikte können unter den Voraussetzungen des § 13 StGB durch unechtes Unterlassen verwirklicht werden.28 In den meisten Fällen der Fahrlässigkeit liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit allerdings in einem aktiven Tun.
Rechtswidrigkeit und „rechtfertigende Pflichtenkollision“
Die Rechtswidrigkeit ist durch das tatbestandsmäßige Unterlassen indiziert. Die Rechtswidrigkeit kann aber durch alle bekannten Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen sein.
In Betracht kommt insbesondere eine „rechtfertigende Pflichtenkollision“.29 Bei ihr handelt es sich um einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund, der immer dann in Betracht kommt, wenn eine Person Adressat mehrerer Handlungspflichten ist, sie aber eine nur auf Kosten anderer Pflichten erfüllen kann und deshalb immer eine Pflicht verletzt, egal, wie sie sich verhält. Eine rechtfertigende Wirkung kann bei einer solchen Pflichtenkollision aber nur dann angenommen werden, wenn der Täter bei gleichwertigen Pflichten eine von ihnen und bei ungleichwertigen Pflichten die höherwertige Pflicht erfüllt. Für das Werteverhältnis kommt es (1) auf die betroffenen Rechtsgüter und (2) den Grad der ihnen drohenden Gefahren sowie (3) auf die individuelle Pflichtenbindung des Täters – Garant oder nur § 323c I StGB – an. Treffen gleichwertige Handlungspflichten aufeinander, hat der Täter die freie Wahl, welche Pflicht er erfüllt. Beispiel: Der Vater kann von seinen beiden ertrinkenden Zwillingskindern, die beide nicht schwimmen können, nur eines retten. Handelt es sich demgegenüber um ungleichwertige Pflichten, so muss der Täter die höherwertige Pflicht befolgen. Beispiel: Kann eines der beiden Kinder bereits schwimmen, droht dem anderen Kind die größere Gefahr; dann muss der Vater diesem schutzbedürftigeren Kind zur Hilfe eilen.
Schuld
Auch der Unterlassungstäter muss schuldhaft handeln. Neben den allgemeinen Entschuldigungsgründen erkennt die h. M. beim unechten Unterlassungsdelikt die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als besonderen Entschuldigungsgrund an.30
Die Pflichterfüllung ist unzumutbar, wenn der Garant durch sie eigene billigenswerte Interessen in erheblichem Umfang gefährden würde und das Gewicht der Interessen, die der Täter preisgeben soll, dem Gewicht des drohenden Erfolgs entspricht; dabei müssen unter Berücksichtigung der Rettungschancen die widerstreitenden Interessen einschließlich des Grades der ihnen drohenden Gefahren gegeneinander abgewogen werden.31
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 48 Rn. 3; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 763.
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 764.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 48 Rn. 6.
- Unechte Unterlassungsdelikte können nur durch Garanten verwirklicht und sind deshalb Sonderdelikte.
- Trotz dieser Entsprechung sieht § 13 II StGB für das unechte Unterlassungsdelikt eine Strafmilderungsmöglichkeit vor.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 5; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 767.
- Wie beim vollendeten Begehungsdelikt. Besonderheit: Rechtfertigende Pflichtenkollision.
- Wie beim vollendeten Begehungsdelikt. Besonderheiten: Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als weiterer Entschuldigungsgrund und Gebotsirrtum statt Verbotsirrtum in den Fällen des § 17 StGB.
- Allerdings können auch Tätigkeitsdelikte durch Unterlassen begangen werden (BGH, Urt. v. 12.12.2000 – 1 StR 184/00, BGHSt 46, 212, 222; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 7).
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 768. Zum versuchten Unterlassungsdelikt.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 48 Rn. 8 – 11; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 771.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 18; Roxin, Strafrecht AT II, 1. Aufl. 2003, § 31 Rn. 78.
- BGH, Beschl. v. 19.12.2018 – 1 StR 597/18, Rn. 6; BGH, Urt. v. 04.09.2014 – 4 StR 473/13, Rn. 59; BGH, Urt. v. 17.02.1954 – GSSt 3/53, BGHSt 6, 46, 59; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 771.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 8 – 11; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 772 f.
- Diese Konstruktion ähnelt der actio libera in causa bei fehlender Schuldfähigkeit.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 12.
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 774.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 13.
- BGH, Urt. v. 06.07.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106, 126 f.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 15.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 24.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 778.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 780.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 30 – 34; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 807 f.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 35 – 37; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 809 – 811a.
- BGH, Urt. v. 11.04.2001 – 3 StR 456/00, BGHSt 46, 373, 379.
- BGH, Beschl. v. 02.08.2017 – 4 StR 169/17, Rn. 20.
- BGH, Urt. v. 29.05.1961 – GSSt 1/61, BGHSt 16, 155, 158.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 54 Rn. 1.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 39 – 42; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 812.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 47.
- BGH, Urt. v. 19.12.1997 – 5 StR 569/96, BGHSt 43, 381, 399; BGH, Urt. v. 30.03.1995 – 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113, 117.