Das fahrlässige Begehungsdelikt
Das fahrlässige Begehungsdelikt
Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den konkreten Umständen und nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist und deshalb (1) die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung nicht erkennt (unbewusste Fahrlässigkeit) oder (2) die Tatbestandsverwirklichung zwar für möglich hält, aber darauf vertraut, dass sie nicht eintreten werde (bewusste Fahrlässigkeit).1
Die bewusste Fahrlässigkeit spielt bei der Abgrenzung zum Eventualvorsatz eine wichtige Rolle. Eine gesteigerte Form der einfachen (unbewussten oder bewussten) Fahrlässigkeit ist die Leichtfertigkeit. Leichtfertigkeit bedeutet grobe Fahrlässigkeit und setzt voraus, dass der Täter besonders sorgfaltswidrig handelt, also aus besonderer Gleichgültigkeit oder grober Unachtsamkeit (Leichtsinn) außer Acht lässt, dass bei seinem Handeln der Erfolgseintritt besonders nahe liegt bzw. sich geradezu aufdrängt (qualifizierte Voraussehbarkeit). Bedeutung hat die Leichtfertigkeit vor allem bei solchen erfolgsqualifizierten Delikten, bei denen hinsichtlich des qualifizierenden Erfolgs „wenigstens“ leichtfertiges Handeln genügt (z. B. §§ 239a III, 251 StGB).
Fahrlässiges Handeln ist nur strafbar, wenn es das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht (§ 15 StGB).2
Beispiele: §§ 222, 229, 306d, 316 II StGB. Vorsatz und Fahrlässigkeit schließen sich gegenseitig aus. Der Vorsatz stellt keine qualifizierte Form der Fahrlässigkeit dar.3 Deshalb wäre es in der Fallbearbeitung verfehlt, nach der Bejahung eines Vorsatzdelikts noch die Strafbarkeit aus einem Fahrlässigkeitsdelikt zu prüfen. Versuch und Teilnahme (§§ 26, 27 StGB) kommen in Fahrlässigkeitsfällen nicht in Betracht, weil sie ein vorsätzliches Handeln voraussetzen.
Der wesentliche Unterschied zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitstaten liegt im Handlungsunwert. Dieser ist bei Vorsatztaten in dem auf die Tatbestandsverwirklichung gerichteten Willen (also dem Vorsatz) zu sehen, der deshalb zum subjektiven Tatbestand gehört. Beim Fahrlässigkeitsdelikt ist es demgegenüber die objektive Sorgfaltspflichtverletzung, die den Handlungsunwert ausmacht.
Deshalb gibt es beim Fahrlässigkeitsdelikt keinen subjektiven Tatbestand. Auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit sind nur objektive Fahrlässigkeitselemente zu prüfen. Die subjektive Fahrlässigkeit ist eine Frage der Schuld und dort zu erörtern.
Prüfungsschema: Das fahrlässige Begehungsdelikt (als Erfolgsdelikt)
I. Tatbestandsmäßigkeit
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Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs durch eine (mögliche) Handlung des Täters
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Verursachung des Erfolgs im Sinne der Äquivalenztheorie (Kausalität)
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Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
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Realisierung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung im Erfolg (objektive Zurechnung)
a) Pflichtwidrigkeitszusammenhang
b) Objektive Voraussehbarkeit des wesentlichen Kausalverlaufs und Erfolgseintritts
c) Objektive Vermeidbarkeit des Erfolgseintritts
d) Schutzzweckzusammenhang (Schutzzweck der Norm)
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
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Schuldfähigkeit (§§ 19, 20 StGB)
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Subjektive Fahrlässigkeit (Fahrlässigkeitsschuld)
a) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
b) Subjektive Voraussehbarkeit des wesentlichen Kausalverlaufs und Erfolgseintritts
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Entschuldigungsgründe (insbesondere Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens)
Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
Eine Fahrlässigkeitshaftung besteht nur dann, wenn der Täter objektiv sorgfaltswidrig gehandelt, also die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat (vgl. § 276 II BGB).
Die allgemeinen Sorgfaltsregeln können sich aus geschriebenen Regeln (Sondernormen; z. B. StVO) und ungeschrieben Regeln (Verkehrsgepflogenheiten) ergeben.4
Der Täter handelt dann nicht objektiv sorgfaltswidrig, wenn er diejenige Sorgfalt angewendet hat, die von einem besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und der sozialen Rolle des Handelnden zu erwarten ist.5
Bei der im Ausgangspunkt rein objektiven Festlegung des Sorgfaltsmaßstabs müssen allerdings ein etwaiges Sonderwissen oder besondere Fähigkeiten des Täters berücksichtigt werden.6
Realisierung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung im Erfolg (objektive Zurechnung)
Zwischen dem Fehlverhalten des Täters und dem Erfolgseintritt muss ein Zurechnungszusammenhang bestehen (vgl. §§ 222, 229 StGB: „durch Fahrlässigkeit“).7 Gerade das rechtlich missbilligte Verhalten des Täters und damit die durch ihn geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr muss sich in tatbestandsspezifischer Weise in der verursachten Folge niedergeschlagen haben (sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang).8
Einige bejahen den Pflichtwidrigkeitszusammenhang schon dann, wenn das pflichtwidrige Verhalten im Vergleich zum rechtmäßigen Alternativverhalten das Risiko des Erfolgseintritts deutlich erhöht hat (Risikoerhöhungstheorie).9 Nach h. M. muss die Realisierung der Pflichtwidrigkeit im Erfolg hingegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen; sobald nach den konkreten Umständen die Möglichkeit besteht, dass der Erfolg auch ohne die Pflichtverletzung eingetreten wäre, muss der Pflichtwidrigkeitszusammenhang nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu Gunsten des Täters verneint werden.10
Der Eintritt des Erfolgs muss objektiv vorhersehbar sein. Das ist der Fall, wenn der wesentliche Kausalverlauf und der eingetretene Erfolg nicht so sehr außerhalb der Lebenserfahrung stehen, dass mit ihnen nicht gerechnet werden muss.11 Der Erfolg muss ferner objektiv vermeidbar sein; kann der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten nicht vermieden werden, kann er dem Täter nicht zugerechnet werden.12
Schließlich entfällt die objektive Zurechnung, wenn der Erfolgseintritt außerhalb des Schutzbereichs der übertretenen Sorgfaltsnorm liegt (Schutzzweckzusammenhang).13 Die Norm, gegen die der Täter verstoßen hat, muss gerade den Zweck haben, den konkreten Erfolgseintritt zu verhindern.14
Rechtswidrigkeit und Schuld
Auch bei Fahrlässigkeitsdelikten ist die Rechtswidrigkeit durch Verwirklichung des Tatbestands indiziert. Sie kann aber ebenso durch anerkannte Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen sein. 15 Die Tat ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn der Täter den Tatbestand auch vorsätzlich hätte verwirklichen dürfen.16 Umstritten ist, ob beim Fahrlässigkeitsdelikt ein subjektives Rechtfertigungselement erforderlich ist und wie es ggf. ausgestaltet sein muss.
Im Rahmen der Schuld ergeben sich im Vergleich zum Vorsatzdelikt zwei Besonderheiten: (1) Es müssen Elemente der subjektiven Fahrlässigkeit festgestellt werden (sog. Fahrlässigkeitsschuld); (2) die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhalten ist als besonderer Entschuldigungsgrund zu beachten.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 7 – 9.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 1 – 6.
- Vorsatz und Fahrlässigkeit stehen allerdings in einem normativen Stufenverhältnis, was auf der Ebene der Konkurrenzen bedeutsam sein kann.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 16.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 12; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 851.
- BGH, Urt. v. 04.09.2014 – 4 StR 473/13, Rn. 32; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 19 – 21.
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 857.
- BGH, Urt. vom 06.07.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106, 115; Kretschmer, Jura 2000, 267, 273; Otto, Jura 2001, 275, 276.
- Kretschmer, Jura 2000, 267, 274 f; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 88 ff.
- Frisch, JuS 2011, 205, 207 f.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 33, 35.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 869.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 26; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 847.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 26; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 847.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 868.
- R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 873.
- BGH, Beschl. v. 21.03.2001 – 1 StR 48/01, NJW 2001, 3200, 3201; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 73.