Berufungsklausur Gutachten Zweckmässigkeit
14) Berufungsklausur – Gutachten und Zweckmäßigkeitserwägungen
Berufungsklausuren sind im Examen eher die Ausnahme. Die Grundzüge solltest du trotzdem kennen, um dich nicht unangenehm überraschen zu lassen. Letztlich wird es in der Klausur nicht um Spezialkenntnis im Berufungsrecht gehen. Es lässt sich aber leichter die Ruhe bewahren, wenn man sich nicht zum ersten Mal im Examen damit befasst.
A. Ausgangslage
Die Ausgangslage in der Klausur stellt sich wie folgt dar:
Der Mandant hat den erstinstanzlichen Prozess zumindest teilweise verloren. Jetzt erscheint er mit dem Urteil. Ist er der Kläger, wurde seine Klage abgewiesen. Ist er der Beklagte, ist er verurteilt worden. Diese Entscheidung möchte er nicht hinnehmen.
Vielleicht wechselt er deshalb auch seinen Anwalt. Dann kann es sein, dass der bisherige Anwalt bereits Berufung eingelegt hat. Du müsstest dann lediglich die Berufungsbegründung anfertigen.
B. Prüfungsreihenfolge
Von der Prüfungsreihenfolge her unterscheidet sich dieser Klausurtyp nicht sehr von der Einspruchsklausur.
I. Begehr des Mandanten
Regelmäßig begehrt der Mandant, dass es nicht bei dem erstinstanzlichen Urteil bleibt.
II. Prozessrechtliches Gutachten
Im prozessrechtlichen Gutachten geht es um zwei Fragen.
1. Laufen die Fristen noch?
Die Berufung muss binnen eines Monats ab Zustellung des Urteils eingelegt werden.
Auch hier kann auf den Ablauf der Prüfung in der Einspruchsklausur verwiesen werden:
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Du prüfst zunächst, ob die Berufungsfrist rechnerisch noch läuft, und unterstellst dabei, dass die Zustellung wirksam war.
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Erst wenn du zu dem Ergebnis kommst, dass die Frist abgelaufen ist, musst du prüfen, ob es Anhaltspunkte für Zustellungsmängel gibt.
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Ist das nicht der Fall, bleibt nur noch der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist.
Auch die Berufungsbegründungsfrist ist eine Zulässigkeitsvoraussetzung, wie sich aus § 522 Abs. 1 ZPO ergibt. Sie beträgt zwei Monate ab Zustellung des Urteils. Zwar handelt es sich nicht um eine Notfrist. Dennoch besteht die Möglichkeit, Wiedereinsetzung zu beantragen (§ 233 Satz 1 ZPO). Dabei beträgt die Wiedereinsetzungsfrist nicht nur zwei Wochen, sondern einen Monat (§ 234 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
2. Wäre eine Berufung statthaft und zulässig?
Sind Berufung und Berufungsbegründung noch möglich, müsste eine Berufung überhaupt statthaft sein. Das richtet sich nach § 511 ZPO.
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Die Berufung ist statthaft, wenn der Wert der Beschwer über 600,00 Euro liegt. Es geht also um die Frage, in welchem Umfang der Mandant verloren hat. Das darfst du nicht immer mit dem Streitwert der I. Instanz gleichsetzen.
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Erreicht die Beschwer die Berufungsgrenze nicht, ist eine Berufung dennoch statthaft, wenn sie vom Ausgangsgericht zugelassen wurde. Das kannst du dem Urteil entnehmen. Wurde die Berufung zugelassen, ist das Berufungsgericht hieran gebunden (§ 511 Abs. 4 Satz 2 ZPO). Du musst also nicht prüfen, ob die Zulassungsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen.
3. Versäumnisurteile
Besonderheiten gelten für Versäumnisurteile bzw. über § 700 Abs. 1 ZPO für Vollstreckungsbescheide.
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Gegen ein erstes Versäumnisurteil ist die Berufung unstatthaft (§ 514 Abs. 1 ZPO). Hier kommt nur der Einspruch in Betracht.
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Handelt es sich um ein zweites Versäumnisurteil, gibt es wiederum keinen Einspruch (§ 345 ZPO). Stattdessen kann Berufung eingelegt werden. Die ist jedoch zunächst auf die Behauptung beschränkt, dass die Säumnis unverschuldet gewesen sei (§ 514 Abs. 2 ZPO). Erst wenn das Berufungsgericht diese Auffassung teilt, befasst es sich mit weiteren Berufungsgründen, die du aber natürlich schon vorträgst.
III. Materielles Gutachten (Berufungsgründe)
Im materiellen Gutachten geht es um die Begründetheit der Berufung.
In § 513 ZPO sind die Berufungsgründe geregelt, die du in der Berufungsbegründung angeben musst (§ 520 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 3 ZPO). Lass dich in deinem Aufbau davon aber nicht beeinflussen, sondern prüfe so, als gäbe das angefochtene Urteil nicht. Hier kannst du dich am Aufbau einer Kläger- bzw. Beklagtenklausur orientieren. Die Berufungsgründe sprichst du erst am jeweils betroffenen Tatbestandsmerkmal an.
1. Rechtsfehler
Das Urteil kann auf einem Rechtsfehler beruhen. Beruhen bedeutet, dass sich der Fehler auf das Ergebnis ausgewirkt haben muss. Abstrakte Fehler sind also unerheblich.
Bist du bspw. der Auffassung, das Ausgangsgericht habe gegen seine Hinweispflicht nach § 139 ZPO verstoßen, was ein Verfahrensfehler wäre, musst du darlegen, was der Mandant auf einen rechtzeitigen Hinweis vorgebracht hätte.
Das stellst du an dem Tatbestandsmerkmal dar, bei dem es auf den ergänzenden Vortrag ankommt.
2. Tatsachenfeststellung
Außerdem kann die Berufung darauf gestützt werden, dass die Tatsachengrundlage des Berufungsverfahrens (§ 529 ZPO) eine andere Entscheidung rechtfertige.
a) Bindung des Berufungsgerichts
Nach § 529 I Nr. 1 Halbs. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die erstinstanzlich festgestellten Tatsachen gebunden. Hierunter fallen sämtliche Tatsachen, auf denen die angefochtene Entscheidung beruht, und zwar unabhängig davon, ob diese Tatsachen ausdrücklich im Tatbestand oder den Entscheidungsgründen wiedergegeben werden oder Gegenstand einer Beweisaufnahme waren. Auch die Darstellung des Tatsachenvortrags als unstreitig oder streitig wird hiervon erfasst. Maßgeblich ist dabei die Wiedergabe im anzufechtenden Urteil (§ 314 ZPO).
b) Wegfall der Bindungswirkung
Die Bindungswirkung entfällt, wenn
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die Tatsachenfeststellung rechtsfehlerhaft ist (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO),
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aufgrund konkreter Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen bestehen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO) oder
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neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zuzulassen sind (§§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO). Hier musst du in der Berufungsbegründung begründen, warum sie zuzulassen sind (§ 520 Abs. 3 1 Nr. 4 ZPO).
Hat das Berufungsgericht Zweifel am Ergebnis einer Beweisaufnahme, muss es die Beweisaufnahme wiederholen. Für die Klausur heißt das, du prüfst, ob dich die Beweiswürdigung im Urteil überzeugt.
c) Erstinstanzlicher Parteivortrag
Ist der Berufungsführer der Auffassung, dass das Ausgangsgericht dort eine Tatsachenbehauptung zu Unrecht als unstreitig bzw. streitig dargestellt hat, muss er einen Tatbestandsberichtigungsantrag beim Ausgangsgericht stellen (§ 320 ZPO). Problem dabei: Die Frist beträgt nur zwei Wochen ab Zustellung. Hat er dies versäumt, muss er diese Feststellung grundsätzlich hinnehmen. Das gilt nur dann nicht, wenn die Wiedergabe im Urteil widersprüchlich ist, bspw. weil die Behauptung an einer Stelle als unstreitig, an einer anderen dagegen als streitig bezeichnet wird.
Du kannst eine fälschlich als unstreitig wiedergegebene Tatsache im Berufungsverfahren neu bestreiten, dann müssen aber wiederum die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO vorliegen.
d) Präkludierte Angriffs- und Verteidigungsmittel
Nach § 531 Abs. 1 ZPO dürfen Angriffs- und Verteidigungsmittel, die das Ausgangsgericht zu Recht zurückgewiesen hat, auch im Berufungsverfahren nicht berücksichtigt werden. Die Zurückweisung des Vortrags wegen Präklusion muss sich unzweifelhaft aus den Entscheidungsgründen ergeben.
Du prüfst deshalb, ob die Voraussetzungen der angewendeten Präklusionsvorschriften zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorlagen.
Nicht von § 531 Abs. 1 ZPO erfasst sind Angriffs- und Verteidigungsmittel, die nach Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Ausgangsgericht in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz vorgebracht wurden, denn diese sind gemäß § 296a S. 1 ZPO ohne Zurückweisung unbeachtlich. Sie können nur unter den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO als neuer Vortrag in der Berufungsinstanz berücksichtigt werden. Etwas anderes kann dann gelten, wenn das Ausgangsgericht diesen Vortrag trotzdem berücksichtigt hat.
3. Unzuständigkeit des Ausgangsgerichts
Darauf, dass das Ausgangsgericht seine örtliche oder sachliche Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat, kann die Berufung nicht gestützt werden (§ 513 Abs. 2 ZPO). Für die internationale Zuständigkeit gilt das nicht.
IV. Zweckmäßigkeitserwägungen
In den Zweckmäßigkeitserwägungen gibt es nur wenige Besonderheiten gegenüber anderen Klausurtypen zu beachten.
1. Beschränkung der Berufung
Hat die Berufung nur teilweise Aussicht auf Erfolg, solltest du sie beschränken. Die Gerichtsgebühren und die Anwaltskosten fallen dann auf einen geringeren Streitwert an.
2. Anschlussberufung
Hat der Mandant nur teilweise verloren, musst du das Risiko berücksichtigen, dass auch der Gegner Berufung einlegt. Neben einer selbstständigen Berufung kommt dabei die Anschlussberufung in Betracht (§ 524 ZPO).
Eine eigene Beschwer ist dafür nicht erforderlich. Deshalb kann (und muss) sich der erstinstanzlich vollständig obsiegende Kläger der Berufung des Beklagten anschließen, wenn er die Klage im Berufungsverfahren erweitern oder neue Ansprüche einführen will, bzw. sich der vollständig obsiegende Beklagte zum Zwecke der Erhebung einer Widerklage der Berufung des Klägers anschließen.
Auch der Berufungswert muss nicht erreicht werden.
Im schlimmsten Fall stünde der Mandant also schlechter da als ohne eigene Berufung.
2. Klageänderung, Aufrechnung, Widerklage
Klageänderung bzw. Aufrechnung und Widerklage sind im Berufungsverfahren nur unter den Voraussetzungen des § 533 ZPO zulässig:
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Einwilligung des Gegners oder Sachdienlichkeit und
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die Entscheidung kann auf denjenigen Tatsachenvortrag gestützt werden, den das Berufungsgericht seiner Entscheidung ohnehin zugrunde zu legen hat.
Bei der Klageänderung gilt § 533 ZPO allerdings nur dann, wenn kein Fall einer stets zulässigen Klageänderung des § 264 Nr. 2, 3 ZPO vorliegt.
3. Einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung
Abhängig vom Tenor des anzufechtenden Urteils musst du ggf. die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung beantragen (§ 719 ZPO). Hier gilt nichts anderes als für den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil.