Auswertung Beweisaufnahme
8) Auswertung einer Beweisaufnahme
Wenn in deiner Klausur-Akte eine Beweisaufnahme mitgeteilt wird, weißt du, dass es auf das Beweisergebnis ankommen soll.
Wie ermittelst du also das Ergebnis der Beweisaufnahme?
- Freie Beweiswürdigung
Zunächst ist es wichtig, den Grundsatz der freien Beweiswürdigung zu kennen. Er ist in § 286 ZPO verankert und besagt, dass das Gericht nach freier Überzeugung entscheidet. Dabei ist es vor allem nicht an Beweisregeln gebunden, es sei denn, sie werden ausnahmsweise vom Gesetz vorgeben (Abs. 2).
So kann das Gericht seine Überzeugung allein auf das stützen, was die beweisbelastete Partei in einer Anhörung nach § 141 Abs. 1 ZPO erklärt hat, selbst wenn mehrere Gegenzeugen etwas anderes ausgesagt haben (BGH XII ZR 48/17 Rn. 12).
Außerdem besagt § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO, dass nicht nur die durchgeführte Beweisaufnahme Grundlage der Überzeugungsbildung ist, sondern der gesamte Inhalt der Verhandlungen. Damit ist letztlich der Akteninhalt gemeint. Wie du weißt, wird mit der Antragstellung im Termin alles, was die Parteien in Schriftsätzen vorgetragen und mit Anlagen untermauert haben, zum Gegenstand der Verhandlung. Das Gericht kann zur Überzeugungsbildung also auch darauf zurückgreifen. Im Ergebnis kommt es deshalb auf eine umfassende Würdigung aller Anhaltspunkte an, die für und gegen die Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung sprechen.
Wenn im Folgenden die Auswertung einer Beweisaufnahme dargestellt wird, weißt du jetzt, dass es dabei nur um einen Teil der Überzeugungsbildung geht.
Die Beweisaufnahme erfolgt im Strengbeweisverfahren. Das bedeutet vor allem, dass nur die fünf Beweismittel der ZPO zugelassen sind: Augenschein, Zeugenvernehmung, Parteivernehmung, Sachverständigengutachten und Urkunden.
Außerhalb der Tatsachenfeststellung im Rahmen der Begründetheit der Klage ist das Gericht dagegen freier und kann sich seine Überzeugung im deshalb auch so genannten Freibeweisverfahren beschaffen. Das kommt bspw. für die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage oder die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe in Betracht. Das Gericht kann beispielsweise einen Zeugen einfach anrufen oder schriftlich vernehmen, was im Strengbeweisverfahren nur ausnahmsweise möglich ist (§ 377 Abs. 3 ZPO), da dort die Beweisaufnahme grundsätzlich unmittelbar vor dem Prozessgericht zu erfolgen hat (§ 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Als dritte Beweisart sieht die ZPO noch die Glaubhaftmachung einer Tatsachenbehauptung vor (§ 294 ZPO). Hier kommen alle Beweismitteln in Betracht; außerdem kann es genügen, die Richtigkeit der Behauptung eidesstattlich zu versichern. Examensrelevante Anwendungsbereiche sind der einstweilige Rechtsschutz und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
- Quellen der Beweiswürdigung
Wo du in der Klausur-Akte das Material für eine Beweiswürdigung findest, hängt von den einzelnen Beweismitteln ab. Vorrangige Quelle ist aber das Sitzungsprotokoll, in das die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung aufzunehmen sind (§ 160 Abs. 2 ZPO). Das gilt besonders für Beweisaufnahmen
- Augenschein
So muss das Ergebnis eines Augenscheins protokolliert werden (§ 160 Abs. 3 Nr. 5 ZPO). Du wirst also im Sitzungsprotokoll eine Bemerkung finden, welche sinnliche Wahrnehmung das Gericht von dem Augenscheinsobjekt hatte.
- Vernehmung der Zeugen und Parteien
Die Aussagen von Zeugen und vernommenen Parteien müssen ebenfalls protokolliert werden (§ 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO).
Ausnahmsweise kann das Gericht auch eine schriftliche Zeugenaussage einholen (§ 377 Abs. 3 ZPO). Den Inhalt der Aussage findest du dann in dem entsprechenden Schreiben.
Den Inhalt einer Parteianhörung muss das Gericht zwar nicht protokollieren. In der Klausur-Akte wird es das aber natürlich trotzdem getan haben.
- Sachverständigengutachten
Das Ergebnis einer sachverständigen Begutachtung kann zum einen ebenfalls im Sitzungsprotokoll enthalten sein, nämlich dann, wenn das Gericht den Sachverständigen angehört hat (§§ 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO). Hat der Sachverständige (auch) ein schriftliches Gutachten erstellt, wirst du Auszüge hiervon in der Klausur-Akte finden.
- Urkundenbeweis
Der Urkundenbeweis wird durch Vorlage des Originals im Termin geführt (§ 420 ZPO). Im Sitzungsprotokoll wirst du einen entsprechenden Hinweis finde. Außerdem wird in der Klausur-Akte eine Kopie der Urkunde als Anlage zu einem Schriftsatz enthalten sein.
- Prüfungsaufbau
Ganz wesentlich für den Erfolg deiner Klausur ist ein logischer Prüfungsaufbau deiner Entscheidungsgründe. Das gilt für die Tatsachenfeststellung durch eine Beweisaufnahme ganz besonders. Hier werden häufig Punkte schon deshalb verschenkt, weil die Grundzüge der Beweiswürdigung nicht bekannt sind.
Das fängt schon damit an, dass die Beweiswürdigung häufig in der Luft hängt, also nicht an eine konkrete Tatsachenbehauptung geknüpft wird. Es ist nicht richtig, eine Beweiswürdigung vor die Klammer zu ziehen. Vielmehr musst du für jede entscheidungserhebliche streitige Tatsache eine eigene Beweiswürdigung vornehmen, wobei du selbstverständlich auf eine bereits erfolgte Würdigung Bezug nehmen kannst, wenn dieselben Grundsätze gelten.
- Beweisthema
Zu Beginn der Beweiswürdigung solltest du dir das Beweisthema noch einmal vor Augen führen, also überlegen, welche konkrete Tatsachenbehauptung bewiesen werden muss.
Bsp.: Der Kläger behauptet, der Beklagte habe ihm die Lieferung der Kaufsache zugesagt. Der Beklagte erwidert, er habe gesagt, es sich überlegen zu wollen.
Hier geht es nicht darum, ob die Parteien über die Kaufsache gesprochen haben, sondern darum, ob der Beklagte mit Rechtsbindungswillen bezüglich der Lieferung gehandelt hat.
- Beweislast
Die Frage, wer die die Beweislast trägt, hast du bereits beantwortet. Dennoch solltest du hier noch einmal prüfen, ob du richtig liegst. Erinnere dich: Kann der Beweis nicht geführt werden, unterliegt die beweisbelastete Partei. In vielen Klausur-Akten findest du Anhaltspunkte für die Beweislastverteilung, zum Beispiel dann, wenn nur eine Partei den Zeugen benannt hat.
- Ergiebigkeit des Beweismittels
Jetzt kommt ein Punkt, der für den Erfolg deiner Klausur eine große Rolle spielt. Bevor du dich mit der Frage beschäftigst, ob dich ein Beweismittel überzeugt, prüfst du, ob dieses Beweismittel ergiebig ist. Ergiebigkeit bedeutet: Bestätigt das Beweismittel überhaupt die streitige Tatsachenbehauptung? Nur wenn das der Fall ist, kommt es darauf an, ob es dich auch überzeugt.
Du überprüfst also den Inhalt des Beweismittels: Ergibt sich aus der Urkunde überhaupt die behauptete Erklärung? Hat der Zeuge die in sein Wissen gestellte Tatsache bestätigt?
Ist das Beweismittel unergiebig, beendest du die Prüfung an dieser Stelle. Die beweisbelastete Partei hat den Beweis dann nicht geführt. Es kommt also nicht mehr darauf an – und wäre in einer Klausur deshalb falsch – ob du bspw. daran zweifelst, dass sich der Zeuge tatsächlich nicht erinnert. Selbst wenn du davon ausgehen würdest, wäre die Beweisbehauptung nicht erwiesen.
- Überzeugungskraft des Beweismittels
Ist das Beweismittel ergiebig, weil es die Beweisbehauptung bestätigt, kommt es darauf an, ob es dich auch überzeugt. Das spielt vor allem eine Rolle bei Zeugen, Parteien oder Sachverständigen. Die Einzelheiten erfährst du in speziellen Exkursen, hier geht es nur um den allgemeinen Ansatz.
Zunächst musst du wissen, wann das Gericht bspw. von der Richtigkeit einer Zeugenaussage überzeugt sein darf. Anders formuliert: Welches Beweismaß gilt?
Muss das Gericht seine Hand ins Feuer legen können, weil es wirklich keine Zweifel mehr hat? Wäre das überhaupt realistisch?
Der BGH hat das Beweismaß im Jahr 1970 wie folgt beschrieben (III ZR 139/67):
„Denn nach § 286 ZPO muß der Richter aufgrund der Beweisaufnahme entscheiden, ob er eine Behauptung für wahr oder nicht für wahr hält, er darf sich also gerade nicht mit einer bloßen Wahrscheinlichkeit beruhigen. Im übrigen stellt § 286 ZPO nur darauf ab, ob der Richter selbst die Überzeugung von der Wahrheit einer Behauptung gewonnen hat. Diese persönliche Gewißheit ist für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Eine von allen Zweifeln freie Überzeugung setzt das Gesetz dabei nicht voraus. Auf diese eigene Überzeugung des entscheidenden Richters kommt es an, auch wenn andere zweifeln oder eine andere Auffassung erlangt haben würden. Der Richter darf und muß sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das wird allerdings vielfach ungenau so ausgedrückt, daß das Gericht sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit begnügen dürfe; das ist falsch, falls damit von der Erlangung einer eigenen Überzeugung des Richters von der Wahrheit abgesehen werden sollte.“
Etwas kürzer ausgedrückt wird allgemein eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit verlangt, wenn sie dem Gericht persönliche Gewissheit verschafft.
Um zu dieser Gewissheit zu gelangen, gehst du wie folgt vor:
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Zunächst prüfst du die innere Überzeugungskraft des Beweismittels. Hier geht es darum, ob dich das Beweismittel für sich genommen überzeugt.
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Ist das der Fall, kommt es im zweiten Schritt auf die äußere Beweiskraft an, also darum, ob sich das Beweismittel widerspruchsfrei in die Ergebnisse anderer Beweismittel einfügt bzw. ob sich bestehende Widersprüche sinnvoll auflösen lassen.
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Erschütterung des Beweises
Bist du bis jetzt von der Richtigkeit der Tatsachenbehauptung der beweisbelasteten Partei überzeugt, musst du abschließend prüfen, ob es dem Gegner gelungen ist, diesen Beweis zu erschüttern.
Wichtiger als die Frage, was das bedeutet, ist zu wissen, was es nicht heißt: Der Gegner muss nicht den Gegenbeweis führen, wie man es oft fälschlich hört. Es kommt also nicht darauf an, dass du am Ende vom genauen Gegenteil der Beweisbehauptung überzeugt bist.
Ein Beweis ist vielmehr schon dann erschüttert, wenn es dem Gegner gelingt, die zum Schweigen gebrachten Zweifel wieder zu wecken. Du darfst es also immer noch für wahrscheinlich halten, dass die Behauptung zutrifft, nur eben nicht mehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Bsp.: Der Klägerzeuge bestätigt glaubhaft die Behauptung des Klägers, der Beklagte habe die Lieferung der Kaufsache fest zugesagt. Der Beklagtenzeuge erklärt dagegen ebenso glaubhaft, der Beklagte habe gesagt, er werde es sich überlegen.
Hier steht „Aussage gegen Aussage“. Es kann so oder so gewesen sein. Du warst nicht dabei und hältst beides für möglich. Der Beweis ist nicht geführt, obwohl du auch nicht davon überzeugt bist, dass der Beklagte die Lieferung nicht fest zugesagt hat. Man spricht hier von einem „non liquet“.
Hier siehst du noch mal deutlich, warum es so wichtig ist, die Beweislast richtig zu verteilen.
Wie du diese Beweiswürdigung in den Entscheidungsgründen umsetzt, erfährst du in den Exkursen zu den einzelnen Beweismitteln.