Actio libera in causa

Actio libera in causa

Bei der umstrittenen Rechtsfigur der actio libera in causa (a.l.i.c.)1 geht es um die Frage, ob sich ein Täter, der im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) eine Straftat begeht, auf diesen Zustand berufen kann, wenn er ihn zuvor schuldhaft herbeigeführt hat.2

Beispiel: T will den O töten. Er betrinkt sich plangemäß so lange, bis er einen BAK-Wert von 3,3‰ erreicht und infolgedessen schuldunfähig i.S.v. § 20 StGB ist. Anschließend setzt er sich in sein Auto und fährt mit diesem zu der zehn Kilometer entfernten Wohnung des O. Als T klingelt, öffnet der nichtsahnende O zuerst die Haus- und anschließend seine Wohnungstür. T sticht sofort auf O ein, der sogleich verstirbt.

Wegen Totschlags (§ 212 StGB) bzw. Mords (§ 211 StGB) kann der Täter in derartigen Fällen nach § 20 StGB an sich nicht bestraft werden, weil er „bei Begehung der Tat“ gemäß § 20 StGB schuldlos gehandelt hat. Es verbleibt allein eine Bestrafung wegen Vollrauschs (§ 323a StGB), was wegen des deutlich geringeren Strafrahmens (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren) jedoch ungerecht erscheint. Dies wirft die Frage auf, ob das Ergebnis korrigiert werden darf.

Bei der Beantwortung dieser Frage ist zwischen der vorsätzlichen und der fahrlässigen a.l.i.c. zu unterscheiden. Zudem ist zu beachten, dass die Anwendung dieser Rechtsfigur nur bei Erfolgsdelikten, nicht hingegen bei verhaltensgebundenen Delikten (z. B. §§ 153, 154, 315c, 316 StGB) in Betracht kommt.

Vorsätzliche a.l.i.c.

Der Grundsatz der vorsätzlichen a.l.i.c. lautet: Wer im Zustand des § 20 StGB eine vorsätzliche Straftat begeht, kann sich nicht auf seine Schuldunfähigkeit berufen, wenn er seinen Defektzustand vorsätzlich herbeigeführt und sich dabei sein Vorsatz auf die später begangene Vorsatztat erstreckt hat.3

Die vorsätzliche a.l.i.c. setzt mithin (1) die Begehung eines Vorsatzdeliktes im Zustand der – typischerweise alkoholbedingten4 – Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) und (2) einen „Doppelvorsatz“ bzgl. der Herbeiführung der Schuldunfähigkeit und der später im Defektzustand begangenen bestimmten (konkretisierten) Tat voraus.

Teilweise wird die Auffassung vertreten, die bei der Tatbegehung fehlende Schuld werde durch das schuldhafte Vorverhalten ausgeglichen; es sei insoweit eine Ausnahme von dem Koinzidenzprinzip, wonach die Schuld „bei Begehung der Tat“ (§ 20 StGB) vorliegen muss, geboten (sog. Ausnahmemodell).5

Das Ausnahmemodell ist mit Art. 103 II GG nicht vereinbar, weil es sich über den Wortlaut des § 20 StGB hinwegsetzt.6

Nach anderer Ansicht sollen die zeitlichen Grenzen der „Tat“ i.S.v. § 20 StGB nicht durch den Eintritt in das Versuchsstadium und die Vollendung der Tat markiert werden. Mit der „Tat“ sei vielmehr ein Schuldtatbestand gemeint, der – in Anlehnung an die §§ 17, 35 I 2 StGB – auch ein schuldhaftes Vorverhalten des Täters mit einbezieht (sog. Ausdehnungsmodell).7

Auch dies überzeugt nicht, weil offenkundig durch einen „terminologischen Trick“ die Koinzidenz von Tatbegehung und Schuld hergestellt werden soll. Zudem leuchtet es nicht ein, den Tatbegriff des § 20 StGB anders als denjenigen in den §§ 16, 17 StGB zu verstehen.8

Man könnte die vorstehende Kritik zum Anlass nehmen, die Rechtsfigur der (vorsätzlichen) a.l.i.c. generell abzulehnen und § 20 StGB ohne jede Einschränkung anzuwenden.9

Diese Auffassung ist dogmatisch gut vertretbar, lässt sich in Extremfällen aber kaum mit dem „Gerechtigkeitsgefühl“ in Einklang bringen.

Die h. M. folgt dem nicht. Sie begegnet dem gegen das Ausnahme- und Ausdehnungsmodell gerichteten Haupteinwand, das Koinzidenzprinzip zu verletzen, dadurch, dass sie bereits das Sichberauschen im Zustand der Schuldfähigkeit als Teil der Tatbegehung ansieht. Das Merkmal „bei Begehung der Tat“ (§ 20 StGB) bedeute nicht, dass die Schuldfähigkeit während der gesamten Tatausführung vorliege; es reiche vielmehr aus, wenn der Täter zumindest bezüglich eines Teils der – mit dem Versuchseintritt beginnenden Tat – schuldfähig ist. Hierfür spreche insbesondere eine Parallele zur mittelbaren Täterschaft: Der Versuch beginne in dem Moment, in dem der Täter seine Schuldunfähigkeit bewusst herbeiführe, um sich anschließend selbst als schuldlos handelndes Werkzeug zur Tatbegehung zu benutzen; es könne keinen entscheidenden Unterschied machen, ob der Täter sich selbst oder einen Dritten als Werkzeug einsetzt (sog. Tatbestandsmodell; auch Vorverlagerungstheorie genannt).10

Man könnte dies mit gutem Grund anders sehen, denn § 25 I Alt. 2 StGB fordert nun einmal die Begehung der Straftat „durch einen anderen“ und eben nicht durch sich selbst. Zudem ist das Sichberauschen eine typische Vorbereitungshandlung und eben noch kein unmittelbares Ansetzen i.S.v. § 22 StGB zur (eigentlichen) Tat.11 Aus klausurtaktischen Gründen wird aber dennoch angeraten, der h. M. zu folgen und das Tatbestandsmodell anzuwenden.

Das Tatbestandsmodell passt allerdings nur bei Erfolgsdelikten. Bei „verhaltensgebundenen Delikten“ – damit sind vor allem die eigenhändigen und schlichten Tätigkeitsdelikte gemeint – wie den §§ 153, 154, 315c, 316 StGB und auch § 21 StVG ist die Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft nicht möglich. In diesen Fällen scheidet eine vorsätzliche a.l.i.c. aus, was jedoch im Ergebnis zu keinen nennenswerten Strafbarkeitslücken führt, weil § 323a StGB die Verhängung gleicher Strafen ermöglicht (siehe § 323a I, II StGB ↔ §§ 315c, 316 StGB).

Zu beachten ist auch, dass sich der „Doppelvorsatz“ des Täters bei der Defektherbeiführung auf eine bestimmte Tat beziehen muss. Stimmen die vorgestellte und die später im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) durchgeführte Tat nicht überein, darf der Vorsatz nur bejaht werden, wenn es sich um unwesentliche Abweichungen handelt. Einen error in persona hält der BGH für unbeachtlich.12

Fahrlässige a.l.i.c.

Denkbar wäre es auch, dem Täter die Berufung auf § 20 StGB zu versagen, wenn er vor dem Erreichen des Defektzustandes den weiteren Verlauf hätte erkennen können.13

Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten (z. B. § 229 StGB) bedarf es jedoch keines Rückgriffs auf die Rechtsfigur der fahrlässigen a.l.i.c., weil dort Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs jedes objektiv pflichtwidrige Verhalten sein kann, das den tatbestandsmäßigen Erfolg in objektiv zurechenbarer Weise verursacht. Der Fahrlässigkeitsvorwurf kann deshalb ohne Weiteres an die Herbeiführung des Defektzustandes im Vorfeld der eigentlichen Erfolgsherbeiführung anknüpfen.14

Bei verhaltensgebundenen Fahrlässigkeitsdelikten (z. B. § 316 II StGB) scheidet eine fahrlässige a.l.i.c. deshalb aus, weil die schuldhafte Herbeiführung des Defektzustandes keine objektiv pflichtwidrige Tathandlung ist.


  1. Wörtlich übersetzt: „Eine in der Ursache freie Handlung“.
  2. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 1 – 3.
  3. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 4 – 24.
  4. Das Sicherversetzen in einen Alkoholrausch stellt den typischen Fall der a.l.i.c. dar. Von dieser Rechtsfigur werden aber alle Defekte des § 20 StGB erfasst.
  5. Krey/Esser, Deutsches Strafrecht, AT, 6. Aufl. 2016, Rn. 708 ff.; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 20 Rn. 25.
  6. BGH, Urt. v. 22.08.1996 – 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 241 f.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 9.
  7. Streng, JuS 2001, 542 ff.
  8. BGH, Urt. v. 22.08.1996 – 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 240; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 70.
  9. Ambos, NJW 1997, 2296 ff.; Hettinger, FS Rengier, 2018, S. 39 ff.; Salzger/Mutzbauer, NStZ 1993, 561 ff.
  10. Hirrsch, FS Geppert, 2011, 235 ff.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 15; Roxin, FS Lackner, 1987, 312 ff.; Satzger, Jura 2006, 513, 515 f. Der BGH hat das Tatbestandsmodell für verhaltensgebundene Delikte verworfen, die Frage nach der Anwendbarkeit der Rechtsfigur der a.l.i.c. für Erfolgsdelikte aber offen gelassen (BGH, Urt. v. 22.08.1996 – 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235) und später eine weitere Beschränkung des Anwendungsbereichs der vorsätzlichen a.l.i.c. abgelehnt (BGH Beschl. v. 07.06.2000 – 2 StR 135/00, NStZ 2000, 584, 585); dies deutet darauf hin, dass er dem herrschenden Tatbestandsmodell zuneigt.
  11. Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 11 Rn. 13; Rönnau, JA 1997, 708 ff.
  12. BGH, Urt. v. 24.11.1967 – 4 StR 500/67, BGHSt 21, 381, 383 f., a. A. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 23: Entscheidend ist, inwieweit der Täter das Individualisierungsrisiko mit in den Rauschzustand genommen hat.
  13. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 25 – 29.
  14. BGH, Urt. v. 22.08.1996 – 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 236 f.