Abgrenzung Eventualvorsatz – bewusste Fahrlässigkeit

Abgrenzung Eventualvorsatz – bewusste Fahrlässigkeit

Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht (§ 15 StGB). Besonders relevant ist in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit.1 Handelt der Täter fahrlässig, führt dies, wo Fahrlässigkeitstatbestände nicht existieren (vgl. § 15 StGB), zur Straflosigkeit und im Übrigen regelmäßig zu deutlich milderen Strafrahmen.

Beispiele: §§ 212, 211 StGB ↔ § 222 StGB; §§ 223, 224 StGB ↔ § 229 StGB.

Wie die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und der (bewusster) Fahrlässigkeit im Detail zu erfolgen hat, ist umstritten.2 Grundlegend lassen sich Lehren, die nur auf das Wissenselement abstellen (sog. Wissenstheorien), von solchen, die zusätzlich ein Willenselement verlangen (sog. Willenstheorien), unterscheiden.

Wissenstheorien

Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie liegt die Bejahung des Vorsatzes umso näher, je größer nach der Tätervorstellung die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts ist. Dies ist unsicher und unpraktikabel und deshalb abzulehnen.3

Die Möglichkeitstheorie lässt die bloße Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung nach der Tätervorstellung genügen, um den Vorsatz zu bejahen. Dabei wird allerdings einschränkend verlangt, dass der Täter bestimmte Anhaltspunkte dafür hat, dass sich das gesetzte missbilligte Risiko in einem bestimmten Erfolg realisieren kann; der Täter muss also von der konkreten Möglichkeit eines tatbestandsmäßigen Geschehens ausgehen.4 Auch mit dieser Einschränkung überzeugt eine solche, allein auf kognitive Elemente abstellende Sichtweise nicht, weil der Verzicht auf voluntative Elemente tendenziell den Vorsatzbereich ausdehnt und die Gefahr in sich birgt, insbesondere äußerst leichtsinnige, zu Verletzungen führende Verhaltensweisen im Straßenverkehr als Vorsatztaten einzustufen.5

Willenstheorien

Die Gleichgültigkeitstheorie setzt ein solches voluntatives Element voraus und bejaht es, wenn der Täter den Erfolgseintritt aus Gleichgültigkeit in Kauf nimmt.6 Dies überzeugt nicht, weil der Vorsatz danach letztlich von Emotionen anstatt von einer willentlichen Stellungnahme zum Erfolgseintritt abhängig ist und undifferenziert zur Vorsatzbejahung führt, wenn den Täter bei gegebenem kognitivem Element ein „Egal-Gefühl“ beherrscht.7

Die h. L. vertritt die Ernstnahmetheorie. Danach handelt der Täter mit Eventualvorsatz, wenn er die Tatbestandsverwirklichung ernsthaft für möglich hält und sich mit ihr um des erstrebten Zieles willens abfindet;8 dagegen handelt nur bewusst fahrlässig, wer ernsthaft darauf vertraut, die als möglich erkannte Tatbestandsverwirklichung werde nicht eintreten.9

Der BGH vertritt die von der Ernstnahmetheorie kaum zu unterscheidende Billigungstheorie und wendet folgende Abgrenzungsformel an:10

Der Täter handelt „vorsätzlich, wenn er den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Zieles willen wenigstens mit ihr abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein; bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.“

Der Ernstnahme- und der Billigungstheorie ist damit insbesondere gemein, dass auch ein unerwünschter Erfolg im Rechtssinne gebilligt werden kann. „Billigen“ bedeutet – auch nach der Auffassung des BGH – nicht, dass der Täter die Tatbestandsverwirklichung gutheißen müsste.11

Instruktiv für die Abgrenzung des Eventualvorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit ist auch der Berliner „Raser-Fall“.12 In seiner diesbezüglichen Entscheidung führt der BGH wörtlich aus:

[17] In rechtlicher Hinsicht ist nach ständiger Rechtsprechung bedingter Tötungsvorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement) (…). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (…).

[19] Die Prüfung, ob Vorsatz oder (bewusste) Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert insbesondere bei Tötungs- oder Körperverletzungsdelikten eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich der Tatrichter mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivation und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände – insbesondere die konkrete Angriffsweise – mit in Betracht zieht (…). Dabei ist die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes (…). Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalles an (…). Dabei hat der Tatrichter die im Einzelfall in Betracht kommenden, einen Vorsatz in Frage stellenden Umstände in seine Erwägungen einzubeziehen (…).

Fallbearbeitung

In der Fallbearbeitung ist eine umfassende Darstellung des vorstehenden Meinungsstreits in aller Regel nicht gefordert.13 Fasst man Ernstnahme- und Billigungstheorie zu einer Meinungsgruppe zusammen, was deshalb sinnvoll ist, weil sie sich inhaltlich nicht unterscheiden,14 kann man von einer klar herrschenden Meinung sprechen. Im Vergleich zu den sonst vertretenen Auffassungen beschränkt diese h. M. den Anwendungsbereich des dolus eventualis am stärksten. Bejaht man im jeweiligen Einzelfall schon unter Anwendung der h. M. einen Eventualvorsatz, ist eine weitere Auseinandersetzung mit den sonstigen Theorien obsolet. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Sachverhalt davon die Rede ist, der Täter nehme den für möglich gehaltenen Erfolgseintritt (billigend) in Kauf, finde sich mit ihm ab, sei mit ihm einverstanden usw. Anders verhält es sich hingegen, wenn im Sachverhalt das Willenselement nicht deutlich beschrieben ist und beispielsweise nur ausgeführt wird, der Täter erkenne die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung, rechne mit ihr oder halte sie für wahrscheinlich. Dann ist der Meinungsstreit zu skizzieren und im Ergebnis der h. M. zu folgen.


  1. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 17.
  2. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 18 – 36.
  3. Geppert Jura 1986, 610, 611.
  4. Schmidthäuser JuS 1980, 241 ff.
  5. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 326.
  6. Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 82, 84.
  7. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 25.
  8. Das voluntative Element wird überwiegend mit dem „Sichabfinden“ umschrieben, aber auch mit „Hinnehmen“, „Inkaufnehmen“ oder „Einkalkulieren“ bzw. „Einverstandensein“.
  9. Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 5 Rn. 85; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 329 ff.
  10. BGH, Urt. v. 04.11.1988 – 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1, 9 f. (Strafbarkeit eines HIV-Infizierten bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr); ebenso BGH, Urt. v. 22.03.2012 – 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 (Absage an den Gedanken einer tötungsspezifischen Hemmschwellentheorie, die für das voluntative Vorsatzelement strengere Voraussetzungen aufstellt).
  11. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 29.
  12. BGH, Urt. v. 01.03.2018 – 4 StR 399/17. Vgl. auch BGH, Urt. v. 09.06.2015 – 1 StR 606/14, Rn. 14.
  13. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 32 – 34.
  14. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 27; Satzger, Jura 2008, 112, 118.