BVerfG zur Bezeichnung eines Sängers als Antisemit: Der Fall Xavier Naidoo (Teil 2)

BVerfG zur Bezeichnung eines Sängers als Antisemit: Der Fall Xavier Naidoo (Teil 2)

Der Fall Xavier Naidoo – ein Fall im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht (Fortsetzung)

Nachdem wir im ersten Teil des Beitrags den Sachverhalt vorgestellt und in einen möglichen Prüfungsrahmen eingeordnet haben, möchten wir uns in diesem zweiten Teil dem absoluten Schwerpunkt der Entscheidung widmen: Der Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung und hierbei insbesondere der Angemessenheit. Wir setzen die Bearbeitung daher bei IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung fort:

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich allerdings gerechtfertigt sein.

1.) Bestimmung der Schranke

Die Meinungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährleistet. Beschränkungen sind möglich durch allgemeine Gesetze, die Bestimmungen zum Schutze der Jugend und durch das Recht der persönlichen Ehre, Art. 5 II GG. Art. 5 II enthält somit einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt.

Anmerkung: Die nach Art. 20 III GG konkret erforderlich einfach-gesetzliche Grundlage und die schrankenspezifischen Anforderungen werden im Rahmen der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage geprüft. Möglich wäre es allerdings auch, bereits an dieser Stelle die konkrete einfach-gesetzliche Grundlage zu benennen und die weiteren Anforderungen aus Art. 5 II GG zu prüfen.

2.) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage

Rechtsgrundlage sind die §§ 1004 I BGB analog, 823 II BGB (§ 186 BGB), die formell und materiell verfassungsgemäß sein müssen.

a) Formelle Verfassungsmäßigkeit

Die der Verurteilung zu Grunde liegenden Vorschriften der §§ 1004 I BGB analog, 823 II BGB (sowie § 186 StGB) sind formell verfassungsgemäß.

b) Materielle Verfassungsmäßigkeit
bb) Schrankenspezifische Anforderungen

Art. 5 II GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Daher sind schrankenspezifische Anforderungen zu beachten.

Das letztinstanzliche Urteil des OLG hat die Bf. nach §§ 1004 I BGB analog, 823 II BGB verurteilt. Hierbei müsste es sich um ein allgemeines Gesetz i. S. v.Art. 5 II GG handeln.

Ein Gesetz ist nicht schon dann allgemein i. S. v. Art. 5 II GG, wenn es abstrakt-generell formuliert ist. Allgemeine Gesetze zeichnen sich nach der Kombinationsformel des BVerfG dadurch aus, dass sie nicht eine Meinung als solche verbieten oder sich gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, sondern dass sie dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen.

§§ 1004 I BGB analog, 823 II BGB (§ 186 StGB) sanktionieren nicht das Innehaben oder Äußern bestimmter Meinungen als solcher, sondern dienen der Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch einen Anspruch auf Unterlassung beeinträchtigender Äußerungen.

Es handelt sich daher um ein allgemeines Gesetz i. S. v. Art. 5 II GG.

bb) Verhältnismäßigkeit

Das eingreifende Gesetz müsste ferner verhältnismäßig sein. Vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung des Art. 5 I 1 GG für die freie Meinungsbildung (Wechselwirkungslehre) sind an die Verhältnismäßigkeit höhere Anforderungen zu stellen. Hier bestehen aber keine Bedenken, da der besonderen Bedeutung des Art. 5 I 1 GG der ebenfalls besonders bedeutsame Persönlichkeitsschutz gegenübersteht. Damit ist auch die Verhältnismäßigkeit des eingreifenden Gesetzes gewahrt.

c) Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts

Ferner ist zu prüfen, ob der Einzelakt, das Urteil des OLG, verfassungsgemäß ist. Insoweit kommt es wiederum (nur) auf das Vorliegen einer spezifischen Verfassungsverletzung an.

Die Nachprüfung durch das BVerfG beschränkt sich insoweit darauf, ob bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sowie deren besonderer Wertgehalt verkannt wurden.

Bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften müssen die zuständigen Gerichte die betroffenen Grundrechte interpretationsleitend berücksichtigen, damit deren wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt.

aa) Legitimes Ziel

Die Verurteilung muss einen legitimen Zweck verfolgen. Die Verurteilung der Bf. dient dem Persönlichkeitsschutz des X. Die Verurteilung dient damit dem Grundrechtsschutz und verfolgt deshalb einen legitimen Zweck.

bb) Geeignetheit

Die Verurteilung muss zum Persönlichkeitsrechtsschutz auch geeignet sein. Ausreichend ist die Förderung der Zweckerreichung. Die Verurteilung bringt zum Ausdruck, dass die öffentliche Darstellung des Persönlichkeitsbildes des X durch die Bf. staatlich missbilligt wird. Die Geeignetheit liegt damit vor.

cc) Erforderlichkeit

Ein Eingriff ist erforderlich, wenn der Zweck nicht durch ein gleich wirksames, aber weniger belastendes Mittel erreichbar ist. Mittel, die das Persönlichkeitsrecht des X in mindestens gleicher Weise schützen, dabei aber die Meinungsfreiheit der Bf. weniger intensiv einschränken, sind nicht ersichtlich. Die Verurteilung ist somit erforderlich.

dd) Angemessenheit

Anmerkung: Hier liegt nun der absolute Schwerpunkt.

Die Verurteilung muss schließlich angemessen sein. Bei der Überprüfung einer Verurteilung wegen eines Meinungsäußerungsdelikts verlangt Art. 5 I 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und des geschützten Rechtsguts andererseits. Erforderlich ist somit eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsrechtsverletzung des X durch die Äußerungen der Bf. und der Intensität des Eingriffs in deren Meinungsfreiheit durch die Verurteilung.

Der Bf. wurde durch die instanzgerichtlichen Entscheidungen untersagt, die streitgegenständliche Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten. Dies stellt für sich betrachtet bereits eine erhebliche Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit dar.

„*Weichenstellend für die Prüfung einer Grundrechtsverletzung ist die Erfassung des Inhalts der Aussage, insbesondere die Klärung, in welcher Hinsicht sie ihrem objektiven Sinn nach das Persönlichkeitsrecht […] beeinträchtigt. Maßgeblich für die Deutung ist weder die subjektive Absicht der sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat. Fernliegende Deutungen sind auszuscheiden.
Ist der Sinn unter Zugrundelegung dieses Maßstabs eindeutig, ist er der weiteren Prüfung zugrunde zu legen. Zeigt sich aber, dass ein unvoreingenommenes und verständiges Publikum die Äußerung als mehrdeutig wahrnimmt oder verstehen erhebliche Teile des Publikums den Inhalt jeweils unterschiedlich, ist bei der weiteren Prüfung von einem mehrdeutigen Inhalt auszugehen.*“

Die Äußerung „Er ist Antisemit“ bezieht sich im abgegebenen Kontext – wenngleich die Bf. als Beleg dafür, dass der Kläger ihrer Ansicht nach ein Antisemit sei, zwei von ihm verfasste Liedtexte anführt - dem Wortlaut nach und auch nach dem allgemeinen Verständnis auf die ganze Person des Klägers. Sie ist nicht auf das musikalische Wirken des Klägers beschränkt und umfasst nicht nur eine Einstufung seiner Texte.

Die Äußerung der Bf. ist zudem nicht mehrdeutig, sondern eindeutig.

Anmerkung: Die Fachinstanzen hingegen haben die Äußerung als mehrdeutig eingestuft und daher auch die für mehrdeutige Aussagen entsprechenden Kriterien angewandt (bei mehrdeutigen Äußerungen ist diejenige in der Abwägung zugrunde zu legen, die den Betroffenen am stärksten in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt. Die Anwendung dieses Maßstabs setzt allerdings voraus, dass überhaupt eine mehrdeutige Äußerung vorliegt, was hier – jedenfalls nach Ansicht des BVerfG – nicht der Fall war.):
„*Die Bf. halte den Kl. des Ausgangsverfahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder-)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Die Rezipienten in der konkreten Veranstaltung [Erg.: das anwesende Publikum] durften die Äußerung der Bf. dahingehend verstehen, sie halte die vom Kl. des Ausgangsverfahrens in seinen Werken transportierten Ansichten für antisemitisch, also feindlich gegenüber Juden eingestellt. […]*“

Aus Sicht der Fachgerichte war entscheidend, dass die Bf. (Beklagte im fachgerichtlichen Verfahren) nicht ausreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür vortragen konnte, dass die ganze Persönlichkeit des Klägers die Bezeichnung als Antisemit rechtfertigt. Unter diesen Umständen habe die Meinungsäußerungsfreiheit letztlich hinter dem Persönlichkeitsrecht des Klägers zurückzustehen.

Genau hier liegt allerdings aus Sicht des BVerfG der Fehler:

Diesen Erfordernissen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht in hinreichendem Maße gerecht. Sie verkennen im Ergebnis die Voraussetzungen einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Sinnermittlung, die vom Wortlaut der Äußerung ausgeht und Kontext und Begleitumstände berücksichtigt. Weiter verkennen sie im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf, die bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen auch mit scharfen Äußerungen gebraucht werden darf.“

„*Eine für die Klärung der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts […] entscheidende konkrete Sinndeutung der Äußerung der Bf. hat das BerGer. bereits nicht vorgenommen. Es hat sich – abstrakt – mit verschiedenen Definitionsansätzen für Antisemitismus befasst und die Äußerung wiederholt als Meinungsäußerung qualifiziert, ohne ihr einen konkreten Deutungsgehalt zuzuweisen.*“

Im Rahmen der Abwägung ist also insbesondere zu beachten, dass der Meinungsfreiheit in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage im Zweifel Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen gebührt.

Der Bf. ging es mit ihren Äußerungen darum, einen Beitrag zur öffentlichen Debatte zu leisten. Die Bf. hat mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt; der Beitrag erfolgte vielmehr im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage.

Das BVerfG führt dazu aus:

Zudem müsse, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben habe, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert. Der Sänger habe sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beanspruche für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit.“

Im Schwerpunkt zielt die Äußerung der Bf. auch nicht darauf ab, X als Person verächtlich zu machen. Es handelt sich weder um eine Formalbeleidigung noch um eine Schmähung.

Anmerkung: Eine Äußerung gilt als Schmähkritik, wenn nicht mehr die sachliche Auseinandersetzung, sondern allein die Herabwürdigung einer Person im Vordergrund steht. Der iBegriff der Schmähkritik ist allerdings von Verfassungs wegen eng zu verstehen und kommt bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise in Betracht.

Es ist hier zu berücksichtigen, dass die Bf. mit ihren Äußerungen zur öffentlichen Debatte beitragen wollte. Die Äußerungen der Bf. richtete sich daher nur teilweise gegen X als Person. Ihr Bedeutungsschwerpunkt liegt auf der Teilnahme an einem öffentlichen Diskurs. Auf Grund der hohen Bedeutung der Meinungsfreiheit für die freiheitlich-demokratische Ordnung ist die Grenze zur Schmähkritik daher nicht überschritten.

Insgesamt überwiegt die Schutzbedürftigkeit der Meinungsfreiheit der Bf. wegen der in einer Demokratie besonders schutzwürdigen Teilnahme an einer öffentlichen Debatte.

Das Gericht hat die Anforderungen des Art. 5 I 1 GG bei der Verurteilung nicht hinreichend berücksichtigt, so dass diese die Bf. in ihrem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit verletzt.

Die Verfassungsbeschwerde ist demnach auch begründet.