Das Gutachten und der Gutachtenstil

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Gutachten gibt es ab sofort nicht nur beim Sachverständigen des Kfz-Versicherers. Vielmehr wirst Du selbst zum Gutachter und nutzt den sogenannten Gutachtenstil, um Fragestellungen und verschiedene Fallkonstellationen zu lösen. Dein Gutachten bildet dabei das Gerüst, an dem Du Dich entlanghangeln musst, um sicher an Dein Ziel zu kommen. Welche essentiellen Regeln und Besonderheiten Du dabei beachten musst, haben wir für Dich zusammengefasst. Kleiner Spoiler an dieser Stelle: Nur mit einem ordentlichen Gutachtenstil kannst Du Klausuren überhaupt erst lösen – und bestehen. Er sollte Dir bestenfalls in Fleisch und Blut übergehen.

Während Deines Studiums wirst Du viele Klausuren und einige Hausarbeiten schreiben, in denen Du die Rechtslage für einen bestimmten Fall ermitteln musst. Die Aufgabe lautet immer gleich: „Erstellen Sie ein Gutachten”.

Du schuldest also ein „Gutachten“ und dieses Gutachten sollst Du im Gutachtenstil schreiben. Dahinter verbirgt sich einerseits eine bestimmte methodische Vorgehensweise und außerdem eine bestimmte Art der Darstellung. Als Jurist:in ermittelst Du nicht etwa die „gefühlte Rechtslage“ oder betreibst „Kaffeesatzleserei“, sondern unterscheidest Dich vom Nichtjuristen dadurch, dass Du eine bestimmte methodische Vorgehensweise hast und diese auch für die Leser:innen sichtbar werden lässt.

Diese methodische Vorgehensweise bezeichnet man als Gutachtenstil, der Dir in Fleisch und Blut übergehen muss. Böse Zungen behaupten sogar, dass Jurist:innen irgendwann im Gutachtenstil träumen. Nur mit einem ordentlichen Gutachtenstil wirst Du später in der Lage sein, auch gute Klausuren zu schreiben und viele Punkte abzustauben.

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Die Schwierigkeit hängt hier damit zusammen, dass Du – im Gegensatz zu den früheren Klausuren in der Schulzeit – jetzt ausschließlich anwendungsbezogene Aufgaben mit einer entsprechenden Transferleistung gestellt bekommst und diese zusätzlich einem erheblichen Zeitdruck unterliegen. Der Gutachtenstil dient also dazu, innerhalb einer bestimmten Struktur die wichtigsten Punkte in einer prägnanten Weise zu prüfen.

Der Gutachtenstil setzt sich aus vier Schritten zusammen:

  1. Obersatz
  2. Definition
  3. Subsumtion
  4. Ergebnis

Vermutlich beschäftigt Dich noch immer die eingangs gestellt Frage, ob ein Stiletto ein gefährliches Werkzeug ist oder nicht. Das lässt sich mithilfe des Gutachtenstils ganz einfach prüfen. Hier die (stark vereinfachte!) Vorgehensweise anhand eines Beispielfalls:

Stiletto - Fall: Die Ex-Freundin (Täterin = T) tritt ihrem Verflossenen (Opfer = O) mit den nagelneuen 12 cm Stilettos in den Bauch. O fällt, krümmend vor Schmerzen, zu Boden. Prüfe die Strafbarkeit der T.

Zu Beginn unserer Prüfung bilden wir zunächst einen Obersatz. Der Obersatz ist die Arbeitshypothese, mit der Du Deine Prüfung einleitest. In unserem Fall würde der Obersatz wie folgt lauten:

Indem T dem O mit ihren 12 cm Stilettos in den Bauch getreten hat, könnte T sich wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben.

Mit diesem Satz hast Du dem Leser Dein Prüfungsprogramm vorgegeben: Du wirst nun also prüfen, ob die in den §§ 223 I, 224 I StGB genannten Voraussetzungen vorliegen und Deine Hypothese bestätigen.

Diese Voraussetzungen werden Tatbestandsvoraussetzungen genannt. Bis auf wenige Ausnahmen findest Du sie in der Regel im Gesetz.

Für unseren Stiletto-Fall schauen wir uns also die §§ 223 I, 224 I StGB an. Hier sind die Tatbestandsvoraussetzungen für die einfache und die gefährliche Körperverletzung geregelt.

§ 223 I StGB nennt die Tatbestandsmerkmale der körperlichen Misshandlung und der Gesundheitsschädigung und § 224 I StGB regelt die darauf aufbauenden, gesteigerten Merkmale.

Wir haben nun also die Tatbestandsvoraussetzungen der (einfachen) Körperverletzung bestimmt. Jetzt müssen wir diese definieren.

An dieser Stelle kommt es zur eigentlichen Arbeit: Bevor wir die Definition unter unseren Sachverhalt legen können, kommt es nun zu einem weiteren (kleineren) Gutachten, einem Untergutachten. Denn wir müssen jede Voraussetzung, die wir in unserem Hauptgutachten prüfen, ebenfalls in Form eines kleineren Untergutachtens prüfen.

Wir beginnen also wieder mit einem Obersatz, der die Prüfung einleitet, ob es sich bei dem Tritt der T um eine körperliche Misshandlung und/oder eine Gesundheitsschädigung handelt:

Hierzu müsste T den O körperlich misshandelt oder an seiner Gesundheit geschädigt haben.

Fangen wir zunächst einmal mit der körperlichen Misshandlung an, deren Definition jetzt im Gutachten genannt werden sollte und die wie folgt lautet:

Unter einer körperlichen Misshandlung versteht man jede üble, unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt.

Du musst nun Deinen Sachverhalt unter die eben genannte Definition subsumieren (lateinisch sub = unter; sumere = nehmen). Das heißt, Du prüfst nun, ob Dein Sachverhalt und das Verhalten der T zu der Definition passt.

Der zuvor schmerzfreie O, fiel nach dem Tritt der T zu Boden, wo er sich vor Schmerzen krümmte. Das körperliche Wohlbefinden des O wurde damit also beeinträchtigt; die offensichtlich starken Schmerzen des O, der sich auf dem Boden krümmte, lassen diese Beeinträchtigung auch als erheblich erscheinen.

Du siehst also, dass unser Fall unter die Definition der körperlichen Misshandlung subsumiert werden kann. Die Frage, ob eine körperliche Misshandlung und somit eine der beiden in § 223 I StGB genannten Voraussetzungen vorliegt, können wir somit bejahen. Dieses Zwischenergebnis hältst Du mit einem abschließenden Satz fest:

T hat das körperliche Wohlbefinden des O mehr als nur unerheblich beeinträchtigt. Eine körperliche Misshandlung liegt somit vor.

Hinweis: In gleicher Weise würdest Du an dieser Stelle noch prüfen, ob auch eine Gesundheitsschädigung vorliegt. Eine Gesundheitsschädigung wird allgemein als das Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand nachteilig abweichenden, pathologischen Zustandes verstanden. Liegt hier ein solcher Zustand vor? Probiere ruhig selbst, diese Frage zu beantworten

Es schließen sich nun die Tatbestandsmerkmale der gefährlichen Körperverletzung im Sinne des § 224 I StGB an.

Da die gefährliche Körperverletzung eine Steigerung zu der einfachen Körperverletzung darstellt, sprechen wir hier von einer Qualifikation. Das Qualifikationsmerkmal des § 224 I StGB, das in unserem Stiletto-Fall in Betracht kommt, findet sich in der dort genannten Nr. 2: „mittels eines gefährlichen Werkzeugs”.

Um den Fall ein wenig abzukürzen, verlassen wir an dieser Stelle unsere Prüfung – das Prinzip des Gutachtenstils solltest Du jetzt überblicksartig verstanden haben. Du kannst es Dir wie mehrere ineinander liegende Schachteln vorstellen, die Du nach und nach öffnest und wieder schließt.

Für die Einordnung des Stilettos als gefährliches Werkzeug lässt sich übrigens sagen, dass es hier – wie so oft bei juristischen Fragestellungen – auf den Einzelfall ankommt.

Maßgeblich ist, ob ein Stiletto nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Verwendung dazu geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen. Es kommt auch darauf an, mit welcher Heftigkeit und gegen welche Körperteile getreten wird.

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Der BGH vertritt mittlerweile die Auffassung, dass bereits ein bloßer Turnschuh als gefährliches Werkzeug qualifiziert werden kann, wenn besonders heftig oder gegen empfindliche Körperregionen getreten wird.

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