Mordverdacht in 332 Fällen - Der "Pfleger mit dem schwarzen Schatten"

Mordverdacht in 332 Fällen - Der

Ehemaliger Krankenpfleger wegen 85 weiterer Patientenmorde zu lebenslanger Haft verurteilt

Das Landgericht Oldenburg spricht zum nunmehr vierten Mal ein Urteil gegen Niels H. – der womöglich größte Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte und ehemalige Krankenpfleger wurde wegen weiterer 85 Morde an Patienten der Kliniken Delmenhorst und Oldenburg verurteilt. In Verdacht stehen sogar mindestens 332 Morde, die aber nicht mehr alle nachgewiesen werden können.

 

Worum geht es?

Vor 13 Jahren stand Niels H. das erste Mal vor dem Oldenburger Richter – Sebastian Bührmann sprach 2006 das erste Urteil gegen den ehemaligen Krankenpfleger wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung und machte schon damals darauf aufmerksam, dass hier weitere Ermittlungen dringend notwendig seien. Wenn man sich heute vergegenwärtigt, dass Niels H. bereits im Zeitraum 1999 bis 2002 auffällig oft bei Wiederbelebungen dabei war und sich die Todesrate in seiner Abteilung beinahe verdoppelte, nachdem er 2003 als Pfleger auf die Intensivstation des Klinikums Delmenhorst wechselte, läuft es einem bei der Vorstellung über das gesamte Ausmaß der Mordserie kalt den Rücken runter. Mit dem aktuellen Urteil gegen Niels H., der unter anderem wegen zweifachen Mordes an Patienten bereits 2015 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, geht nun der vierte Prozess zu Ende: Das Landgericht Oldenburg hat den Serienmörder wegen Mordes in 85 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt und zugleich die besondere Schwere der Schuld festgestellt – eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren ist damit in der Praxis so gut wie ausgeschlossen. “Die Taten sprengten jegliche Grenzen”, sagte der Vorsitzende Richter Bührmann – Niels H. war wegen Mordes in 100 Fällen angeklagt, 43 Taten hatte er selbst gestanden, in 15 Fällen sprach ihn das Gericht frei.  

Die Mordserie begann vor 19 Jahren

Erst 2005 konnte er gefasst werden – damals auf frischer Tat von einer Krankenschwester ertappt, als er gerade einem 63-Jährigen Patienten mehrere Ampullen Gilurytmal spritzte und eine Pumpe mit einem lebenswichtigen Medikament abschaltete. Trotz dieses Vorfalls ließ ihn das Krankenhaus noch zwei weitere Tage im Krankenhaus arbeiten, sodass er am 24. Juni 2005 einen weiteren Mord begehen konnte, der aber erst später ans Licht kommen sollte.

Nach der ersten Verurteilung kam der Fall erst so richtig ins Rollen – nicht aufgrund der von Bührmann angemahnten Dringlichkeit weiterer Ermittlungen, sondern weil die Angehörige ihrer im Jahr 2003 im Krankenhaus Delmenhorst verstorbenen Mutter in der Zeitung von dem Urteil liest. Sie drängt lange Zeit auf die Exhumierung ihrer verstorbenen Mutter, bei der sich herausstellt, dass ihr das tödliche Herzmedikament gespritzt wurde. Die Staatsanwaltschaft gründete daraufhin die Sonderkommission “Kardio” und ließ insgesamt 134 weitere Leichen auf insgesamt 67 Friedhöfen exhumieren – teilweise auch in Polen und der Türkei. Es gibt sogar noch weitere Verdachtsfälle – da viele mögliche Opfer aber eingeäschert wurden, ist hier ein toxikologischer Nachweis und eine Aufklärung nicht mehr möglich. Zieht man weitere Faktoren heran, wie die Entwicklung der Sterbefälle oder den Medikamentenverbrauch auf den Stationen, auf denen H. tätig war, so kommt man auf 200 bis 300 potentielle Opfer in den Jahren 2000 bis 2005 – die Sonderkommission “Kardio” spricht sogar von insgesamt 332 möglichen Opfern, ebenso viele Strafverfahren wegen Mordverdacht hat sie gegen ihn auch eingeleitet.  

“Wie soll das funktionieren, wenn man moralisch auf unterster Stufe steht?”

Bereits am ersten Prozesstag rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie aus einem unauffälligen Krankenpfleger der womöglich schlimmste bekannte Serienmörder der Nachkriegszeit in Deutschland werden konnte? H. sagte aus, dass er einerseits “Leistung bringen” und zum “harten Kern elitärer Pflegekräfte” zählen wollte. Andererseits habe er sich “orientierungslos” und “allein” gefühlt und kam mit der Arbeit oft nicht zurecht. Er erzählt dabei, wie ein Patient einmal begann bei vollem Bewusstsein massiv zu bluten, als H. neben ihm stand. Ärzte eilten hinzu, öffneten dem Patienten den Brustkorb und forderten H. auf, das Herz des Mannes mit seinen Händen in Bewegung zu halten:

“Das war alles so rasant, so schnell, so surreal”, sagt er.

Kurze Zeit später beginnt er seine Mordserie im Krankenhaus in Oldenburg und spritzt am 07. Februar 2000 einer 77 Jahre alten Patientin das Medikament Lidocain. Als Motiv führt er “Imponiergehabe” an – er habe getötet, um positive Rückmeldungen für seine Reanimationsfähigkeiten zu bekommen.

In vorangegangenen Prozessen hatte er noch beteuert, “lediglich” an die 30 Patienten getötet und dabei auch nur ein einziges Medikament verwendet zu haben. Aus den unzähligen Untersuchungen ist inzwischen klar, dass die Zahl der Opfer wesentlich höher liegt und er unterschiedliche Medikamente, teils in Kombination, für seine Taten nutzte. An den Einlassungen des ehemaligen Krankenpflegers bestanden daher schon beim Prozessauftakt Zweifel – auf Nachfrage konnte er sich nicht mehr genau erinnern und widersprach sich mehrmals. Das Gericht wollte unter anderem geklärt wissen, warum sich H. erst jetzt an seine Morde im Krankenhaus in Oldenburg erinnert, während er sie noch vor vier Jahren im Prozess abgestritten hatte.

Bei seinem vierten Prozess spricht Niels H. von Scham und Reue, die ihn Tag und Nacht begleiten. Im Verlauf des Gerichtsverfahrens sei ihm bewusst geworden, dass er durch seine schrecklichen Taten unendliches Leid verursacht habe. Den Vorwurf, den Prozess lediglich als Bühne für seine Selbstdarstellung nutzen zu wollen, bestreitet er:

“Wie soll das funktionieren, wenn man moralisch auf unterster Stufe steht?”

 

Die Frage nach der Glaubwürdigkeit und der Schuldfähigkeit

Für die Haftdauer dürfte aber auch die Glaubwürdigkeit und die Frage nach der Schuldfähigkeit des angeklagten H. von erheblicher Relevanz sein. Namhafte Psychiater erstellten hierzu Gutachten – unter anderem der Forensiker Henning Saß, der auch schon die NSU-Terroristin Beate Zschäpe begutachtet hatte. Der renommierte Professor stieg kurzfristig in den laufenden Prozess ein, da der langjährige psychiatrische Gutachter des Angeklagten im Prozessverlauf erkrankte. H. verweigerte jedoch das Gespräch mit Saß – womöglich aus gutem Grund, denn dieser attestierte ihm ein wesentlich weniger wohlwollendes Persönlichkeitsbild: Saß erkennt definitiv keine Einschränkungen der Schuldfähigkeit und auch keine schwere psychiatrische Erkrankung – er sieht aber “deutlich ausgeprägte” psychopathische Züge. Niels H. zeige wenig Reue und wenig Schuldgefühle, er habe einen Mangel an Empathie und Verantwortungsgefühl, zudem seien die Therapieaussichten äußerst gering. Saß geht vielmehr davon aus, dass H. weitere Straftaten begehen könnte. All dies konnte der Forensiker aus den Polizeiprotokollen und dem beobachteten Verhalten im Gerichtssaal feststellen.
 
In seinem Gutachten ging Saß auch auf die von H. geäußerten Motive ein und sieht hierin verschiedene Überschneidungen: Geltungsbedürfnis, Selbstüberhöhung, Selbststabilisierung, Stimmungshebung und Sensationslust. Niels H. habe mit seinen Taten zudem das Machtgefälle zwischen Ärzten und Pflegern ausgleichen wollen – mehrfach hat er sich negativ über das System in Krankenhäusern geäußert und versucht, einen Teil der Schuld dem medizinischen System zuzuschieben. Zur besseren Einordnung seiner Aussagen wurde deshalb auch ein aussagepsychologisches Gutachten von dem Rechtspsychologen Max Steller angefertigt. Demnach spreche nichts gegen die Glaubwürdigkeit der Geständnisse, die H. während des Prozesses in 43 Fällen abgelegt hat. Er habe sein Aussageverhalten aber immer wieder der jeweiligen Faktenlage angepasst und falsche Aussagen so lange aufrecht erhalten, bis das Gegenteil völlig feststand. In dem Gutachten wird ihm nicht nur eine “hohe Lügenneigung und eine hohe Lügenbereitschaft” attestiert, sondern auch die Fähigkeit, qualitativ hochwertige Falschaussagen zu tätigen.

 

Prozesse gegen die Verantwortlichen der Krankenhäuser

Die Frage nach der Glaubwürdigkeit war auch deshalb interessant, weil auch die Vorgesetzten und Kollegen von Niels H. künftig vor Gericht gestellt werden könnten: Denn nach allem was bislang bekannt ist, soll in den Krankenhäusern Oldenburg und Delmenhorst einiges vertuscht worden sein – man habe die Warnzeichen dort nicht nur übersehen, sondern aktiv verdrängt. H. habe sogar ein gutes Arbeitszeugnis bekommen und sei vom Oldenburger Krankenhaus nach Delmenhorst weggelobt worden, obwohl deutlich wurde, dass etwas nicht stimmte. Der drohende Imageschaden des Krankenhauses sei höher bewertet worden, als das Wohl der Patienten.

Kollegen hätten durchaus mitbekommen, dass während Högels Dienstzeiten besonders viele Patienten starben – den “Pfleger mit dem schwarzen Schatten” nannten sie ihn, zeigten die Taten jedoch nicht an. In den folgenden Prozessen gegen die Verantwortlichen der Krankenhäuser wird unter anderem zu klären sein, warum der um das Siebenfache gestiegene Verbrauch des Herzmittels Gilurytmal niemandem aufgefallen ist und warum es zu keinen Konsequenzen kam, als in den Schichten des Pflegers die Sterbeziffer signifikant gestiegen ist. Högel hat bereits am ersten Prozesstag sichtliches Interesse daran gezeigt, die Verantwortung für seine Taten auch auf das Wirtschaftssystem der Krankenhäuser zu schieben. Vier frühere Kollegen Högels am Klinikum Delmenhorst – davon zwei Ärzte und zwei leitende Pflegekräfte – werden sich wegen Totschlags durch Unterlassen ebenfalls vor Gericht verantworten müssen. Ermittlungen gegen fünf weitere Klinikmitarbeiter aus Oldenburg laufen derzeit noch.