BGH: Vorbeifahren auf dem Gehweg - "Überholen" iSv § 315c I Nr. 2b) StGB?

A. Sachverhalt

A, der sich einer polizeilichen Kontrolle entziehen wollte, überfuhr unter großer Beschleunigung des von ihm gesteuerten Pkws das Rotlicht einer Lichtzeichenanlage und bog nach links in eine Straße ein, auf der in Fahrtrichtung des A drei Fahrstreifen vorhanden waren. Nach kurzer Strecke war dem A die sofortige Weiterfahrt auf der Fahrbahn versperrt, weil auf der linken und der mittleren Fahrspur Autos vor einer Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage warteten und der rechte Fahrstreifen durch einen an einer Haltestelle stehenden Linienbus blockiert war. Um dennoch vor dem ihm folgenden Polizeifahrzeug an dem Stau vorbei flüchten zu können, lenkte der A den Pkw über einen Bordstein schräg auf den rechten Gehweg und fuhr in einem Abstand von weniger als einem Meter an zwei Mädchen auf einem Fahrrad vorbei. Danach setzte er die Fahrt - an den auf der Straße wartenden Fahrzeugen vorbei - deutlich schneller als mit Schrittgeschwindigkeit über den Bürgersteig fort und hielt auf einen Passanten zu, der auf dem Trottoir in Fahrtrichtung des A entlanglief. Der vom A gesteuerte Pkw berührte den Fußgänger in nicht näher feststellbarer Weise, der dadurch aus dem Tritt geriet, ohne das Gleichgewicht zu verlieren oder auf den Boden zu stürzen, laut aufschrie und schimpfte, dann aber seinen Weg unverletzt fortsetzte. Bei diesem Vorbeifahren bestand die naheliegende Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes mit dem Passanten, so dass es nur vom Zufall abhing, ob er sich bei diesem Fahrmanöver erheblich verletzen würde. Dem A war dies klar, er fand sich jedoch damit ab, um seine Flucht fortsetzen zu können.

Nachdem A auf dem Gehweg noch fünf weitere Fußgänger passiert hatte, ohne dass dabei die Gefahr eines Zusammenstoßes bestanden hatte, steuerte er den Pkw nach rechts, streifte versehentlich das an einer Hausfassade befestigte Reklameschild eines Ladengeschäfts und bog in eine Seitenstraße ein, wo er seine Fahrt noch eine kurze Strecke auf dem Gehweg fortsetzte, ehe er anhielt und zu Fuß flüchtete.

Strafbarkeit des A?

B. Die Entscheidung des BGH (Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16)

I. Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c I Nr. 2b) StGB

A könnte sich wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c I Nr. 2b StGB strafbar gemacht haben, indem er über den Bürgersteig fuhr und dadurch ein Passant aus dem Tritt geriet.

 

1. Tatbestand

Zunächst müsste A im Straßenverkehr falsch überholt haben.

Ein Überholen im Sinne der StVO (vgl. § 5 StVO) ist ein Sonderfall des Vorbeifahrens. Kein Überholen im Sinne der StVO, sondern „nur“ ein Vorbeifahren liegt aber vor, wenn ein Verkehrsteilnehmer an anderen Verkehrsteilnehmern vorbeifährt und dabei anderen, nicht zur selben Fahrbahn gehörende Verkehrsflächen nutzt. A hat den Gehweg benutzt, der nicht zur Fahrbahn gehört. Damit hätte er nicht überholt, sondern wäre nur vorbeigefahren.

Der BGH stellt aber einleitend dar, dass das Überholen iSv § 315c StGB nicht auf Überholvorgänge im Sinne der StVO (vgl. § 5 StVO) beschränkt sei. Das Merkmal sei vielmehr genuin strafrechtlich zu bestimmen:

„Überholen im Sinne der Straßenverkehrsordnung meint den tatsächlichen Vorgang des Vorbeifahrens von hinten an Fahrzeugen anderer Verkehrsteilnehmer, die sich auf derselben Fahrbahn in dieselbe Richtung bewegen oder verkehrsbedingt halten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Februar 1975 – 4 StR 508/74, BGHSt 26, 73, 74; vom 28. März 1974 – 4 StR 3/74, BGHSt 25, 293, 296; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 5 StVO Rn. 16 mwN; Heß in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 5 StVO Rn. 2 mwN). Nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift des § 315c Abs. 1 StGB, der auf den Schutz des Lebens, der Gesundheit und bedeutender Sachwerte vor im Gesetz näher bezeichneten, besonders gefährlichen Verhaltensweisen im Verkehr abzielt, ist die Reichweite des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB indes nicht auf Überholvorgänge im Sinne der Straßenverkehrsordnung beschränkt (vgl. BVerfG, NJW 1995, 315, 316; OLG Düsseldorf, VRS 107, 109; OLG Hamm, VRS 32, 449; König in LK-StGB, 12. Aufl., § 315c Rn. 77 ff.; Ernemann in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 2. Aufl., § 315c Rn. 16; Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 315c Rn. 18; Renzikowski in Matt/Renzikowski, StGB, § 315c Rn. 8; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 315c Rn. 6f, Zieschang in NK-StGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 41; Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 315c StGB Rn. 22; Hagemeier in MüKo-Straßenverkehrsrecht, § 315c Rn. 50). Ähnlich wie bei dem Verständnis der Vorfahrt in § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB (vgl. zum sog. erweiterten Vorfahrtsbegriff: BGH, Beschluss vom 20. Januar 2009 – 4 StR 396/08, BGHR StGB § 315c Abs. 1 Nr. 2a Vorfahrt 1; Urteil vom 12. November 1969 – 4 StR 430/69, VRS 38, 100, 102; Beschluss vom 5. Februar 1958 – 4 StR 704/57, BGHSt 11, 219) ist der Begriff des Überholens in § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB vielmehr durch Auslegung des Regelungsgehalts der Strafrechtsnorm zu bestimmen.“

 

Ausgehend vom Wortlaut und Sinn und Zweck der Strafbestimmung führt der BGH aus, dass ein Überholen im Sinne von § 315b I Nr. 2b) StGB nicht die Benutzung der Fahrbahn voraussetze; auch müsse die Fahrt nach dem Vorbeifahren an dem anderen Fahrzeug nicht auf dessen Fahrbahn fortgesetzt werden (sog. erweiterter Überholensbegriff):

„Ausgehend von der Wortbedeutung und unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Sichbewegen auf derselben Fahrbahn kein taugliches Kriterium für eine abschließende Erfassung besonders gefährlicher Fälle des Vorbeifahrens liefert, wird das Tatbestandsmerkmal des Überholens auch durch ein Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen verwirklicht, das unter Benutzung von Flächen erfolgt, die nach den örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen Straßenraum bilden. Danach ist ein Überholen beispielsweise gegeben bei einem Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen (vgl. BVerfG aaO), über Ein- oder Ausfädelspuren oder über lediglich durch Bordsteine oder einen befahrbaren Grünstreifen von der Fahrbahn abgesetzte Rad- oder Gehwege (vgl. OLG Hamm aaO). Dagegen fehlt es an einem Überholvorgang etwa bei einem Vorbeifahren unter Benutzung einer von der Fahrbahn baulich getrennten Anliegerstraße oder mittels Durchfahren einer Parkplatz- oder Tank- und Rastanlage auf der Bundesautobahn (vgl. König aaO Rn. 80).

c) Ebenso wenig wie das Überholen nach der Straßenverkehrsordnung einen Spurwechsel nach Abschluss des Überholvorgangs voraussetzt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. März 1974 – 4 StR 3/74 aaO S. 297; vom 3. Mai 1968 – 4 StR 242/67, BGHSt 22, 137, 139), kommt es für den strafrechtlichen Begriff des Überholens nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB darauf an, dass die Fahrt nach dem Vorbeifahren an dem anderen Fahrzeug auf dessen Fahrbahn fortgesetzt wird. Wollte man für das Überholen begrifflich auf eine das Vorbeifahren abschließende Rückkehr auf die Fahrbahn abstellen, bliebe zudem die rechtliche Einordnung des tatsächlichen, eine bestimmte Absicht nicht erfordernden Vorgangs des Vorbeifahrens bis zu dessen Abschluss in der Schwebe.“

 

Danach habe A falsch überholt:

„Indem der Angeklagte den von ihm gesteuerten Pkw über den Bordstein auf den Gehweg lenkte und dort unter Verstoß gegen das Gebot der Fahrbahnbenutzung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO an den auf der linken und der mittleren Fahrspur verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen vorbeifuhr, hat er im Sinne der Strafvorschrift falsch überholt.“

 

A hat in besonders gravierender Weise gegen die Vorschriften der StVO verstoßen, wonach die Fahrbahn zu benutzen ist (§ 2 I StVO). Das hat er zudem aus eigensüchtigen Motiven getan. Daher handelte er grob verkehrswidrig und rücksichtslos. Es kam auch zu einem „Beinahe-Unfall“ mit dem Fußgänger, sodass A auch Leib oder Leben einer anderen Person gefährdete.

Schließlich handelte A vorsätzlich.

 

2. Rechtswidrigkeit und Schuld

A handelte rechtswidrig und schuldhaft.

 

3. Ergebnis

A hat sich wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs strafbar gemacht.

II. Strafbarkeit wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr nach § 315b I Nr. 3 StGB

Die Voraussetzungen eines ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriffs (§ 315b I Nr. 3 StGB) liegen nicht vor. A war Verkehrsteilnehmer und seine Teilnahme am Verkehr lässt sich mangels Schädigungsvorsatz nicht als „Pervertierung eines Verkehrsvorganges“ einordnen. Der Gefährdungsvorsatz des A ist nicht gleichbedeutend mit dem Vorsatz, dass es tatsächlich zu einem Schaden anderer kommt.

C. Fazit

Straßenverkehrsdelikte sind immer wieder Gegenstand von Prüfungs- und Examensaufgaben. Die aktuelle Entscheidung ist ein wunderbarer Anlass, sich mit den §§ 315b ff. StGB vertieft auseinanderzusetzen.