OVG Lüneburg zum nachträglichen Rücktritt von einer nicht bestandenen Wiederholungsprüfung

OVG Lüneburg zum nachträglichen Rücktritt von einer nicht bestandenen Wiederholungsprüfung

Beschwerde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes

Können Prüfungsstress und die damit häufig verbundenen Symptome eine Prüfungsunfähigkeit und einen nachträglichen Rücktritt von der Prüfung begründen?

I. Sachverhalt

Die Antragstellerin ist seit dem Wintersemester 2019/2020 bei der Antragsgegnerin im Studiengang Humanmedizin immatrikuliert. Im Sommersemester 2020 nahm sie an dem leistungsnachweispflichtigen Kurs der mikroskopischen Anatomie - Teil 1 teil, wobei sie weder im Erstversuch das mündliche Testat am 3. Juli 2020 noch die erste Wiederholungsprüfung am 17. Juli 2020 bestand. Am 29. Januar 2021 nahm sie an der zweiten schriftlichen Wiederholungsprüfung teil, bestand aber ausweislich der Prüfungsentscheidung vom 8. März 2021 auch diese nicht. Mit einem undatierten Schreiben - bei der Antragsgegnerin am 23. Februar 2021 eingegangen - beantragte sie unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung von D. (Klinik für Psychische Gesundheit des Universitätsklinikums E.) vom 1. Februar 2021 gegenüber dem Studiendekanat, den letzten Prüfungsversuch aufgrund einer „persönlichen Härte“ und eines „Blackouts“ während der Prüfung zu annullieren. Die Antragsgegnerin wertete dieses Schreiben als Widerspruch gegen die Prüfungsentscheidung vom 8. März 2021 und wies diesen mit Bescheid vom 15. März 2021 zurück.

Die Antragstellerin hat hiergegen Klage erhoben und einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt mit dem Ziel, sie vorläufig zu einer erneuten Wiederholung der Prüfung in dem Kurs “Mikroskopische Anatomie” zuzulassen. Diesen Antrag hat das VG Göttingen mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes abgelehnt (Beschluss vom 2. Juni 2021, 4 B 96/21) und hierzu ausgeführt, die Antragsgegnerin habe die angegriffene Prüfung voraussichtlich zu Recht als nicht bestanden gewertet. Der nachträglich erklärte Rücktritt sei nicht wirksam, da die Antragstellerin die krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht habe. Sie habe zudem diese nicht unverzüglich angezeigt. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen diesen Beschluss des VG Göttingen hatte keinen Erfolg.

II. Die Leitsätze

  1. Die mit einer Prüfungssituation typischerweise verbundenen Anspannungen und Belastungen, die zu vegetativen Reaktionen wie Konzentrationsstörungen führen, sind grundsätzlich nicht als prüfungsrelevantes Defizit der persönlichen Leistungsfähigkeit zu bewerten und begründen in der Regel keine Prüfungsunfähigkeit.
  2. An die Unverzüglichkeit der Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit ist ein strenger Maßstab anzulegen. Eine Rücktrittserklärung ist nicht mehr unverzüglich, wenn sie nicht zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgt, zu dem sie vom Prüfling in zumutbarer Weise hätte erwartet werden können.
  3. Von einem Prüfling, der sich mit Hilfe eines Arztes über während einer Prüfung auftretende etwaige Krankheitssymptome Gewissheit verschafft, ist zu erwarten, dass er unmittelbar im Anschluss daran den Rücktritt erklärt, ohne dass ihn der Prüfer oder die Prüfungsbehörde auf diese Obliegenheit hinweisen muss.

III. Gründe

Das OVG Lüneburg hat die Beschwerde aus folgenden Gründen zurückgewiesen:

1. Ärztliches Attest und krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit

Das ärztliche Attest sei nicht geeignet, eine krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit zu belegen. Grundlage der Diagnose seien die von der Antragstellerin gestellten Beschwerden von vor drei Tagen gewesen. Der Arzt habe keine eigene Anschauung über die geltend gemachte Prüfungsunfähigkeit gehabt und auch keine eigenen Befunde erhoben. Die Antragstellerin habe es versäumt, ihren Gesundheitszustand noch am 29. Januar (Tag der Prüfung) untersuchen zu lassen.

2. Kriterien für erschwerte Prüfungsbedingungen

Das OVG führt aus, dass bei den Ursachen für erschwerte Prüfungsbedingungen zu differenzieren sei, ob es sich dabei um erhebliche Minderungen der allgemeinen Startchancen oder um ein Defizit der persönlichen Leistungsbereitschaft des Prüflings handle; letztere werde für den Prüfungserfolg vorausgesetzt. Zu den Erfolgsvoraussetzungen einer jeden Prüfung gehöre die Fähigkeit, auch dann die geforderte Leistung zu erbringen, wenn die aktuelle Tagesform schlecht sei. Prüfungsstress und Examensängste gehörten zum Risikobereich des Prüflings. Die mit einer Prüfungssituation typischerweise verbundenen Anspannungen und Belastungen, die zu Konzentrationsstörungen führen, seien von den Prüflingen hinzunehmen und nicht als prüfungsrelevantes Defizit der persönlichen Leistungsfähigkeit zu bewerten (vgl. Jeremias in  Niehues/Fischer/Jeremias Prüfungsrecht, 7. Auflage 2018, Rn 256). Letzteres sei bei der Antragstellerin offenbar der Fall gewesen. Die Antragstellerin habe auch unter Berücksichtigung der ärztlichen Bescheinigung nicht glaubhaft gemacht, dass die von ihr geltend gemachten Panikattacken ihre Ursache in unabhängigen Umständen hatten und nicht im überwiegenden Maß vom bloßen Prüfungsstress (letzte Wiederholungsprüfung) ausgehe. Ob Angststörungen der hier vorliegenden Art eine Prüfungsunfähigkeit begründen, sei keine rein medizinische, sondern vorrangig eine Rechtsfrage.

3. Unverzügliche Anzeige der Prüfungsunfähigkeit

Der von der Antragstellerin erst am 23. Februar 2021 erklärte Rücktritt von der Prüfung sei – wie bereits das VG festgestellt habe – nicht mehr unverzüglich erfolgt.

Der das gesamte Prüfungsrecht beherrschende Grundsatz der Chancengleichheit gebiete es, an die Unverzüglichkeit der Rücktrittserklärung einen strengen Maßstab anzulegen. Die Rücktrittserklärung müsse zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen, zu dem sie – nach den Umständen des Einzelfalles – vom Prüfling in zumutbarer Weise habe erwartet werden können. Das erst am 23. Februar eingegangene Schreiben entspreche dieser Forderung nicht. Es spreche nach dem Vortrag der Antragstellerin bereits Überwiegendes dafür, dass sie schon während der Prüfung ihre Prüfungsunfähigkeit hätte erkennen können (z.B. Zittern, Schweißausbrüche, Mundtrockenheit, Schwindel). Sie hätte daher die Prüfung abbrechen oder am Ende der Prüfung einen entsprechenden Vorbehalt erklären müssen.  In jedem Fall hätte sie spätestens am 1. Februar 2021 (nach der Konsultation des Arztes) ihren Rücktritt erklären müssen. Dies umso mehr, als der Antragstellerin nach ihrem Vorbringen bereits unmittelbar nach der Prüfung – zwei Tage vor dem Arztbesuch – bewusst war, dass sie einen „ Blackout“ hatte. 

Der Einwand der Antragstellerin, sie habe erst das Gespräch mit dem Kursleiter F. am 3. Februar abwarten wollen, greift nach Auffassung des OVG nicht. Von einem Prüfling, der unter Gesundheitsstörungen leide, könne verlangt werden, dass er seinen Rücktritt unverzüglich erkläre. Dies gehöre zum Standard von Prüfungen und sei den Prüflingen bekannt. Hierauf müssten weder die Prüfungsbehörde noch der Lehrkörper ausdrücklich hinweisen. Nur ausnahmsweise folge aus der prüfungsrechtlichen Fürsorgepflicht eine diesbezügliche Informationspflicht; dies sei nur bei nicht allgemein zu erwartenden Anforderungen der Fall. Eine solche Situation liege hier jedoch nicht vor.

IV. Anmerkung

Die wesentlichen Punkte des Beschlusses des OVG ergeben sich – für jeden Prüfling wichtig – bereits aus den Leitsätzen. Reiner Prüfungsstress und die damit häufig verbundenen Symptome begründen demnach keine Prüfungsunfähigkeit.

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